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Trauerweiden

Trauerweiden

Titel: Trauerweiden
Autoren: Wildis Streng
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Volksfest, das einmal im Jahr, nämlich im September, stattfand, war offenbar das Nationalheiligtum der Crailsheimer. Alle waren dort, wirklich alle. Die Jugendlichen benutzten den großen Vergnügungsplatz, um mit Gleichaltrigen anzubandeln. Und alle Welt war nachts im Bierzelt. »Ganz Craalsa«, pflegte ihr Partner zu sagen. »So, Freunde der Nacht«, brüllte der Gitarrist nun ins Mikrofon. Begeisterung brandete auf, Maßkrüge reckten sich durch die Dunstschwaden empor. Etwas Bier schwappte aus dem Krug ihres Nachbarn auf Lisas Top. Igitt. »Kennt ihr das Rote Pferd?« Jubel. Schon erklangen die ersten, unverkennbaren Töne des Gassenhauers. Die Crailsheimer stellten ihre Maßkrüge ab und bestiegen die Bierbänke, wenn sie nicht schon dort standen und tanzten, johlten und klatschten. Lisa schüttelte den Kopf. Und das in der Provinz. »Ist das hier immer so, bei eurem … Volksfest?«, schrie sie zu Heiko hinüber.
    Sie musste brüllen, obwohl er direkt neben ihr saß. Ihr Freund grinste.
    »Volksfest halt«, meinte er. »Denk nicht so viel drüber nach. Mach einfach mit.«

Volksfestsamstag,
21. September, 9.23 Uhr
    Morgens vor dem Volksfestumzug saßen die Crailsheimer Kriminalkommissare Heiko Wüst und Lisa Luft im McDonald’s und frühstückten. Lisa trank wie immer einen Latte Macchiato und aß nichts. Heiko hingegen hatte sich einen Frühstücksburger bestellt, den er nun genüsslich verzehrte. Dazu trank er einen Kaffee mit Milch und viel Zucker. Sie hatten sich nach draußen gesetzt. Inzwischen war die Sonne durchgebrochen und spendete zwischen Wolkenfetzen hindurch letzte Wärme. Freche Spatzen hopsten um ihren Tisch herum und suchten nach Krümeln.
    »Dieses Jahr sind die Bauern dran, das ist immer am schönsten«, informierte Heiko und biss wieder ab. Ein besonders mutiger Spatz flog auf den Nachbarstuhl und beäugte gierig den Burger. Heiko warf ihm einen Krümel hin. Der Vogel schnappte sich seine Beute sofort und floh damit auf einen nahe gelegenen Strauch.
    »Süß«, kommentierte Lisa und meinte damit den Vogel.
    »Jedenfalls wechselt das. In einem Jahr gestalten die Schulen den Festzug, in einem die Gewerbetreibenden und dann schließlich die Bauern.«
    »Ah ja.«
     
    »Und dann gibt es noch die Gruppen, die bei jedem Festzug dabei sind, wie zum Beispiel die Bürgerwache, die Fränkische Familie, die Majoretten …«
    »Majowie?«
    »Majoretten!«
    »Was ist das denn?«
    »Soweit ich weiß, wurden die Crailsheimer Majoretten in den Siebziger Jahren vom damaligen Bürgermeister Zundel ins Leben gerufen. Ursprünglich waren die Majoretten so eine Art Militär-Cheerleader, aber heutzutage geht es hauptsächlich um den Tanz und die Formation.«
    »So«, meinte Lisa. Sie war ja schon wirklich gespannt auf diesen Festzug – im leicht ironischen Sinne. Denn den Lokalpatriotismus, den die Crailsheimer in jeder Minute des Volksfestes an den Tag legten, konnte sie nicht vorbehaltlos teilen. Schon Wochen vorher hingen überall Plakate, man tröstete sich über das nahe Ende des Sommers einzig mit der Tatsache, dass bald Volksfest war. Hatte das Fränkische Volksfest dann mit der Bierprobe am Freitag offiziell begonnen – (der Politische Abend am Donnerstag war für die meisten Crailsheimer nur Beiwerk, auch, wenn es zu so interessanten Konstellationen wie ›Teufel spricht im Engel-Zelt‹ kam) – so liefen die meisten Crailsheimer mit beinah religiös erleuchteten Mienen über den Festplatz. Blieb abzuwarten, wie sich dieser Nationalstolz, der jedes Normalmaß zu übersteigen schien, auf den Festzug auswirkte.
     
    Als der Morgen des Volksfestsamstags anbrach, lag Jessicas toter Körper schon eine ganze Weile im trüben Wasser der Jagst. Die träge Strömung hatte sie mitgenommen und sie durch die ganze Stadt getragen, ohne dass jemand Notiz von ihr genommen hätte. Das Wasser war kalt und hatte den kleinen Blutrückstand, der auf ihrer Brust entstanden war, längst ausgewaschen. Makellos gelb strahlte die Uniform im Schmutziggrün des Flusswassers. Die Kappe saß fest, das straffe Kinnband hielt sie an Ort und Stelle, aber die leichte, doch beständige Strömung mit kleinen Wirbeln hatte ihren Dutt gelöst und nestelte nun zärtlich einzelne dunkle Haarsträhnen unter der Kopfbedeckung hervor. Von unten stupste ein Fischlein gegen einen ihrer Finger, wohl irritiert wegen des großen Fremdkörpers, der da im Wasser trieb. Eine Fadenalge wickelte sich kurz um ihre andere Hand, als wolle sie sie
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