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Trauerweiden

Trauerweiden

Titel: Trauerweiden
Autoren: Wildis Streng
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Zigarette an. Vom Heiraten wollte er nichts wissen. Heiraten war ungut. Alle, die er kannte, trugen nach ihrer Hochzeit nur noch Jogginganzüge, wurden fett und stritten sich andauernd. Das war nichts für ihn. Für ihn und Lisa. Lisa besah sich inzwischen die Trachten. Die Frauen trugen weiße Blusen, darüber eine Weste und dazu einen langen, schwarzen Rock. Außerdem gehörte ganz offensichtlich ein Hut oder eine Haube dazu. Die Männer hingegen hatten schwarze Hosen und Fräcke an, dazu ein weißes Hemd mit rotem Tuch und auf dem Kopf einen Dreispitz. Schick sah das aus, fand Lisa, durchaus schick.
    »Doudi«, rief nun die Alte plötzlich, und auch mehrere Umstehende griffen den Ruf auf. »Doudi.«
    »Doudi.«
    Lisa fragte sich, was denn jetzt wieder los war, und sah sich um. Es war immer noch die Fränkische Familie da. Die Rufe galten offenbar einer resolut aussehenden älteren Dame mit Brille und grauem Dutt in Tracht, die in einem herrschaftlich aussehenden schwarzen Wagen saß und den Leuten hoheitsvoll zuwinkte.
    »Und wer ist das jetzt?«
    »Das ist Ulrike Wurmspecht-Deyler. Eine Lokalgröße, die sich um die Bewahrung der Hohenloher Kultur verdient gemacht hat.«
    »Des ist halt unser Doudi«, mischte sich die Alte ein.
    »Wie bitte?«
    »Doudi von Drääschbi«, informierte Heiko.
    Lisa guckte immer noch genauso verständnislos.
    Heiko blies Rauch aus und grinste. »Die Patentante aus Triensbach.«
    Lisa blinzelte. Sie hatte ja schon gelernt, dass sie nicht in Onolzheim wohnte, sondern in Oonza. Aber was die Crailsheimer aus »Triensbach« machten, war ja wohl gänzlich unaussprechlich.
    »Und warum … Daudiiiih?«
    »Doudi«, verbesserte Heiko. »Ist eine liebevolle Bezeichnung für eine ältere Dame.« In Lisa verfestigte sich allmählich der Eindruck, dass ein Nachschlagewerk für die Hohenloher Eigenheiten gar nicht schlecht wäre. Bei den Wägen der Landjugend wurde reichlich Obstler ausgeschenkt. Dann kam der Wagen des Engel-Bräu. Sechs riesige schwarze Pferde zogen den Wagen, und oben saß ein Mann mit Lederhose, Hemd und gewaltiger Wampe.
    »Der Bierkönig«, erklärte Heiko. Schon hatten sich einige Männer hinter dem Wagen versammelt, um Becher mit mikroskopischen Mengen Bier zu ergattern. Lisa schüttelte wieder den Kopf. Komisches Volk, die Hohenloher.
     
    Schließlich war es ruhiger geworden für Jessica Waldmüller. Ihre Uniform war inzwischen ganz mit Jagstwasser vollgesogen. Die Haare der jungen Frau waren nun zu einem Großteil unter der Kappe hervorgeschwemmt worden und umgaben sie wie ein Schleier, bedeckten gnädig ihr Gesicht. Schließlich näherte sich der Körper einer der großen Trauerweiden, die kurz vor der Heldenmühle ihre Zweige in die Jagst streckten. Die dunkelgrünen Blätter der Trauerweiden schienen wie Hände zu sein, die nach Jessica griffen, auch, wenn sie sie nicht mehr retten konnten. Endlich verfing sich eine lange Haarsträhne in den biegsamen Zweigen, und die Trauerweide ließ ihren Fang nicht mehr los.
     
    »Und das ist jetzt der Eilooder bei Tag«, erklärte Heiko. Schon gestern hatte Lisa die bemalte Sperrholzfigur ausgiebig bewundern müssen, die den Crailsheimern offenbar eine Art Volksfestgötze war. Das Symbol des Volksfestes. Die Figur thronte auf riesigen Torbögen, die mit Tannenreisig geschmückt und von Fahnen in den Crailsheimer Stadtfarben flankiert waren. Auch der Eilooder trug fränkische Tracht, aber bunter als die Trachtenträger vom Festzug: Er hatte grüne Pumphosen und einen grünen Frack an, außerdem eine rote Weste zum Hemd. Das braungebrannte, freundliche Gesicht krönte ein Dreispitz. Der Eilooder stand breitbeinig über dem Tor. In der rechten Hand hielt er einen Regenschirm, den er flanierend abstützte. Mit der linken machte er einladende Gesten. Daher hatte er freilich auch seinen Namen. Sie hatten diese Torbögen bereits am Vorabend einmal passiert, doch jetzt am Tag hatte der Platz eine gänzlich andere Atmosphäre. Unter einem strahlend blauen Himmel thronte das Riesenrad an der Stirnseite des Platzes. Die Luft war klar, aber die Kühle des Herbstes war bereits deutlich zu spüren. Links beim Eingang stand immer das »schlimmste« Fahrgeschäft, so hatte Heiko erzählt. Dieses Jahr war es ein Freefall-Tower namens »Superdiver«, vor dem die coolen Jungs mit todernster Miene Schlange standen. Denn konnte man am Dienstag in der Schule nicht erzählen, dass man mit dem wildesten Fahrgeschäft gefahren sei, so wurde man für den
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