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Trauerweiden

Trauerweiden

Titel: Trauerweiden
Autoren: Wildis Streng
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festhalten, um sich gleich darauf wieder zu lösen und sich einen anderen Weg zu bahnen. Dann erfasste eine stärkere Strömung die Leiche, wirbelte sie einmal herum und führte sie unter der Eisenbahnbrücke durch, auf der gerade unter ohrenbetäubendem Dröhnen ein Zug rauschte.
     
    Sie standen nun schon seit einer dreiviertel Stunde beim Schnelldruckladen in der Menge. Heiko hatte seiner Freundin erklärt, dass sie hier einen sehr guten Blick auf das Geschehen hätten.
    »Und wann fängt das jetzt an?«, fragte Lisa.
    »Hat doch schon angefangen«, meinte Heiko. »Hörst du nicht?«
    Die Kommissarin lauschte. Außer dem Geschnatter der jungen Mütter mit Kinderwagen, die um sie herum standen, und dem Husten einer Alten, die genau vor ihnen mit ihrem enormem Hinterteil auf einem beängstigend fragil wirkenden Klappstuhl saß, hörte sie nun wirklich rhythmisches Trommeln. Da war sie ja gespannt.
    »Glei kummas«, sagte die Alte zu ihrem Mann, der neben ihr stand. Der Klappstuhl knarzte vernehmlich.
    »Wird bestimmt a schääner Feschtzuuch des Johr«, meinte die eine Mutter zur anderen. Heiko zog Lisa näher zu sich heran und küsste ihren Nacken. Lisa schloss für einen Moment glücklich die Augen und genoss die liebevolle Geste. Sie war froh, dass sie mit ihm zusammen war. Ein bisschen fürchtete sie sich vor ihrem Geburtstag, wo Heiko ein weiteres Mal auf ihre Mutter treffen würde. Das letzte Mal war sehr anstrengend für alle Beteiligten gewesen – was aber eher an Lisas Mutter als an Heiko gelegen hatte. Jedenfalls war ihre Mutter entsetzt gewesen über den rohen, schwäbischen Barbaren. Lisa hatte es bis heute nicht geschafft, ihr zu vermitteln, dass Hohenloher und Schwaben nicht dasselbe waren. Zuerst hatte sie das ja auch geglaubt. Dachte man an Baden-Württemberg, so dachte man an die Schwaben. An Stuttgart. An Daimler-Benz. An die Kehrwoche und ähnliches Zeug. Aber nicht an die Hohenloher. Dabei waren die Hohenloher durchaus ein eigenständiger Volksstamm. Ehrlich und gerade heraus, aber auch schwer zu gewinnen. Vor allem wenn man wie Lisa ein Fischkopf war – das heißt, von nördlich des Saarlandes stammte – und nahezu Hochdeutsch sprach. Trotzdem hatte sie in ihren Kollegen sehr loyale Freunde und in Heiko einen lieben Partner gefunden. Die Musik schwoll nun an, kam immer näher.
    »Sie kommen«, bemerkte Heiko überflüssigerweise. Dann marschierte die erste Gruppe um die Kurve. Ältere Herren in schwarz-grünen Uniformen mit enormen roten Federbüschen auf den Köpfen.
    »Die Bürgerwache«, erläuterte Heiko. Lisa betrachtete die Männer eingehend. Stolz marschierten sie zu einer Polka, die der Musikzug hinter ihnen spielte. Es gab ein enormes Glockenspiel, das auf einem Ständer vor den Musikern her getragen wurde und das von einem Mittfünfziger mit großer Hingabe gespielt wurde.
    »Und die bewachen die Bürger?«, fragte Lisa. Heiko winkte ab. »Ist ursprünglich was Historisches. Die wurde im 15. Jahrhundert gegründet, um Crailsheim zu verteidigen.«
    »Soso«, murmelte Lisa, während sie die Herren mit einer Art wissenschaftlichem Interesse musterte.
    »Pass auf, gleich wird’s interessant. Da kommen die Majoretten.«
     
    Nun hatte die Strömung die Leiche weiter mitgenommen, die Haller Straße entlang, aber tief unten, in der Jagst, für die keiner der Crailsheimer um diese Zeit einen Blick übrig hatte. Der Fluss gabelte sich hier und führte seine beiden Arme um eine kleine Insel herum, auf der ein Wirtschaftsgebäude einer Firma stand. Niemand befand sich in dem Gebäude. Und so fiel es auch niemandem auf, dass der Fluss eine Weile zu überlegen schien, auf welchem seiner Arme er Jessica weiterschicken sollte. Schließlich entstand durch das kleine Wehr, das den rechten Arm etwas beschleunigte, ein Sog, der ausreichte, die Leiche von Jessica Waldmüller weiterzutragen. Kurz tauchte der Körper unter, als er das Wehr hinuntergerutscht war, um aber gleich darauf wieder an die Oberfläche zu kommen. Inzwischen hatten sich noch mehr Haarsträhnen gelöst und umgaben das Gesicht der jungen Frau wie ein gnädiger Vorhang, der das Entsetzen in ihrem Blick etwas verschleierte.
     
    Lisa brummte unwillig, als sie die Majoretten in der Ferne herannahen sah. Toll. Eine ganze Horde Frauen in kurzen, gelb-schwarzen Uniformen, die an Heiko vorbeidefilieren würde. Sie sah die Männer auf der anderen Straßenseite sich erwartungsvoll nach vorne beugen. Mehrere rüstige Rentner brachten ihre
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