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Traeumer und Suender

Traeumer und Suender

Titel: Traeumer und Suender
Autoren: Matthias Goeritz
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gesehen. Der Platz war leer.
    Â«Ihr Gerät wieder dabei?», hörte er die amüsierte Stimme des alten Mannes.
    Â«Ich hab es immer dabei.»
    Er konnte sich erinnern, dass der alte Mann beifällig genickt hatte. Damals hatte er ihn das erste Mal in Freizeit-Kleidung empfangen, er trug eine dünne Stoffhose und ein etwas zu großes Leinenhemd, eine Wackelfigur. Seine Füße steckten in Espandrillos. Bleiche Füße. Anders als der Rest des abgemagerten Körpers wirkten sie fleischig, fast wie Accessoires, extra geformt aus Marzipan. Er hatte beim Hereinkommen ein zweites Paar der Segeltuchschuhe erblickt, der alte Mann musste sie vor ein paar Stunden bei einem Spaziergang über den Platz getragen haben, als der Sturzregen begann, sie waren durchweicht, die Strohsohle vollgesogen und teilweise aufgelöst, zwei verschrumpelte, graue Minielefanten aus Pappmaschee.
    Â«In der Schweiz hatte man irgendwann keine Chance mehr. Wenn man Kommunist war und der Partei der Arbeit der Schweiz angehörte, war die Wahl klar: entweder austreten oder auswandern. Haben viele gemacht. Mein Mentor hat mir erzählt, wie das war, wenn man vom Westen aus in die DDR übersiedelte. Erst mal die Amtsstube: Lineoleumböden und Resopaltische, Akte um Akte, Fragen nach der Familie, der politischen Gesinnung, was wollen Sie in der Deutschen Demokratischen Republik, Herr …, Frau …, was wissen Sie über den Faschismus, welche Maßnahmen gegen die friedliebende Sowjetunion bereitet die Schweiz Ihres Wissens nach vor, ich hab ihn damals angestaunt, als würde er mir von Mondkühen erzählen, bis ich dann selbst das ganze Misstrauen abbekam, als ich rüberging; die Verhöre in Friedberg, ‹Befragungen› nannten sie das. Aber mein Mentor, der hat noch was viel Seltsameres erlebt,damals, bei Magdeburg. Erzähle ich Ihnen alle ein anderes Mal! Wir leben in einer Welt der Monster, und wenn wir nicht aufpassen, werden wir selber welche.
    Aber Spaß beiseite, geben Sie mir doch Ihren Mantel. Ist ein Sauwetter draußen, finden Sie nicht? Legen Sie ab, legen Sie ab! Ralph hat Ihnen Ihren Lieblingstee gemacht. Verveine. Steht schon an Ihrem Platz, Sie können sich auch erst frisch machen, wenn Sie wollen.»
    Der Interviewer hatte den Kopf geschüttelt und bloß um ein Handtuch gebeten, um sich die Haare abzutrocknen. «Ralph, bringst du bitte ein Handtuch?», hatte der Produzent in Richtung Küche gerufen.
    Â«Setzen Sie sich. Er kümmert sich gleich um alles. Mögen Sie Baiser? Ralph backt gerade. Wissen Sie, das mit den Göttern war ernst gemeint. Man konnte das früher nicht wissen, in der Antike, ob der Fremde, der an der Tür um Einlass gebeten hatte, ein Mensch war oder ein Gott in menschlicher Verkleidung. Das sind die Anfänge der Gastfreundschaft, müssen Sie wissen. Dieser Zweifel, dieser Respekt vor dem Fleisch als einer vielleicht nur geistigen Hülle fürs Göttliche. Hostis und Hospis, Freund und Feind, da fehlte nur ein Buchstabe.
    Genau wie manchmal nur ein kleiner Moment fehlt, damit man glücklich ist. Ist das Glück? Oder Zufall? Hat da einer nur die Atome falsch gemischt, die falsche Sprungbahn fürs Elektron ausgegeben, keine ausreichende Energiemenge bereitgestellt? Wer weiß. Jedenfalls merkt man erst spät, wer auf welcher Seite steht.
    Kommen Sie, setzen Sie sich ans Feuer. Da trocknen Sie schneller. Kaminfeuer beruhigt. Haben Sie ihr Gerät schon wieder an, die ganze Zeit? Ich dachte, wir wären über die Arbeitsverbindung hinaus, aber es ist schon gut, irgendwiehabe ich mich daran gewöhnt, mit Ihnen meine Ideen für die Nachwelt aufzuzeichnen.
    Man vergisst so schnell.
    Ich bin eigentlich ein wenig enttäuscht von Ihnen. Sie haben das Set für den Außendreh am Sender und in den Wäldern bei Gleiwitz ja selbst gesehen. So ein Wetter, damit konnte man ja nicht rechnen, ganz Europa verschwindet im Regen, letztes Jahr jedenfalls war’s besser. Ach was soll’s. Es ist halt so. Es gibt Dinge, die kann man nicht beeinflussen, man müsste schon Silberjodid-Raketen in großem Stil in die Wolken schießen, möglichst bei Island, damit sich das Tief da abregnet. Das machen die in Moskau bei wichtigen Ereignissen – nicht vor Island, das funktioniert rein lokal –, bei Olympiaden oder Paraden, wenn sie gutes Wetter brauchen, ja wirklich, es gibt ein russisches meteorologisches
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