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Traeumer und Suender

Traeumer und Suender

Titel: Traeumer und Suender
Autoren: Matthias Goeritz
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vorn gewiesen wurde.
    Ralph, der in seinem schwarzen Anzug mit dem am Hals bis zum Platzen gespannten Hemd wie ein zum Bodyguard umgeschulter Eishockeyspieler aussah, machte ihm den Platz am Gang frei. Dem Interviewer war unbehaglich zumute gewesen. Als wäre er ein Angehöriger. Als wäre er ein Sohn. Aber er hatte sich in den letzten Tagen nach seinem Besuch in der Klinik, wohin sie den alten Mann nach seinem Zusammenbruch eingeliefert hatten, wie dieser es sich gewünscht hatte, tatsächlich um die Rettung des
Gleiwitz
-Films bemüht. Was ihn dazu bewogen hatte? Er wusste es nicht. Der letzte Griff des alten Mannes, der seinen Rechtsanwalt bestellte und ihm die Verfügungen leise und in bestimmtem, juristisch neutralem Ton vorlas und ihn die Papiere mit Durchschlag unterzeichnen ließ, bevor er sie notariell – mit Ralph als schnell herbeigerufenem Zeugen – beglaubigte. Sicher, sie würden mit dem Widerstand der Gesellschafter rechnen und sich auf einige Klagen einstellen müssen, schließlich ging es um ein Millionenvermögen. Nein, er würde nicht direkt erben, aber der alte Mann überschrieb ihm seine Firma mit der Auflage, den
Gleiwitz
-Film zu drehen. Und er würde nicht nur das Gehalteines Direktors beziehen, sondern die Anteile, die er jetzt nur als Stimmanteile besaß, real, als veräußerbare Aktien mit ihrem dann gegenwärtigen Marktwert auch de facto und de jure erhalten. Ein Erbe auf Abruf. Der alte Mann hatte ihm die Hand gedrückt, sprechen konnte er nicht mehr, die Schmerzmittel, die ihm die Oberärztin aus der Palliativmedizin in extrem hohen Dosen verabreichte, hatten ihn bereits an den Rand des langen Schlafs gebracht, an den der Interviewer immer denken musste, weil er sich selbst nicht eingestehen konnte, dass niemand bis jetzt ein wirklich passendes Bild für den Tod gefunden hatte. Es war kein Krankenzimmer gewesen, in das man ihn geführt hatte, es gab nur wenige blinkende Instrumente, der obligatorische Infusionsständer, ansonsten herrschten helle Farben vor, Orange, dezent arrangierte Blumen und man hörte eine leise Musik im Hintergrund, Vivaldi? Der Interviewer war sich nicht sicher gewesen, er hatte irgendwann nur die Hand gespürt, die Hand des alten Mannes, und seine grauen, verschleierten Augen auf sich gerichtet gefühlt, die das einzig wirklich Lebendige in diesem Sterberaum waren, während er den Ausführungen des Notars mit halbem Ohr zugehört hatte.
    Ein Stück von Vivaldi würde auch jetzt gespielt werden, wie er dem Programmfaltblatt entnahm, das Ralph ihm in die Hand drückte, als er sich setzte. Wie absurd, dachte er plötzlich. Nigel Kennedy war mit ihm in die Kapelle getreten und hatte sich in die hintere Ecke zurückgezogen, um seinen Geigenkasten zu öffnen. Ein Star als internationale Begräbnisvioline, wie passend.
    Der Interviewer sah über seine Schulter. Er bemerkte, dass die internationale und nationale Prominenz aus Film und Fernsehen über ihn tuschelte. Wie viele Genies, Geldmaniker, Ruhmgeile, Kreative, Aus-, Über- und Abgenutzte sah er da. Wie viele Menschen, die er bewundert und verachtet,zumindest aber beurteilt hatte, weil sie ihr Leben zu einem öffentlichen gemacht hatten. Spielberg schaltete sich mit einer Videobotschaft dazu, gerade aus New York. Coppola hatte immerhin einen Kranz geschickt. Und, ja, da waren Lars von Trier und Kirsten Dunst. Aber kein Tarantino. Das Rätsel würde er nicht lösen. Dafür sah er die Chefs großer Fernsehsender und Politprominenz. Neben Münchens Oberbürgermeister Christian Ude saß auch der polnische Staatspräsident Komorowski. Fünf Trauerreden würde es geben. Eine, die letzte, käme von ihm. Als hätten sie sich alle überboten, ein Jahr nach der Beisetzung von Eichinger, dem schärfsten Konkurrenten des alten Mannes, noch glanzvoller trauernd und noch betroffener schauend hier aufzutauchen und München zumindest beim Abschiednehmen zur Filmhauptstadt zu machen. Ralph drückte ihn neben sich auf die Bank. Es war alles so schnell gegangen. Der Tod, die Übernahme, die Briefings mit den tatsächlichen Details über die völlig festgefahrene Produktion. Aber was hätte er machen können, machen wollen. Er war über sich selbst erstaunt, er hatte unterschrieben, er hatte Ja gesagt.
    Womit er auch nicht gerechnet hatte: Dass er am Grab so hemmungslos weinen würde. Die
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