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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten
Autoren: Lidewij van Wilgen
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Über jeder Bahn prangt ein reich verziertes Schild mit dem Namen eines großen Weinhauses darauf.
    Ein Kellner zieht meinen schweren Stuhl nach hinten, während ich mich im Restaurant umschaue. An den meisten Tischen sitzen ältere Damen und Herren, es herrscht das gedämpfte Rauschen von ruhigen Unterhaltungen. Ein altes Ehepaar sitzt sich wortlos gegenüber, die Frau kerzengerade. Ein weiches, dekoratives Lächeln hat sich wie ein niederschwebendes Blatt auf ihr Gesicht gelegt.
    Der erste Wein wird eingeschenkt. Aad erkennt das Château und beginnt eine begeisterte Unterhaltung, die gespickt ist mit Jahreszahlen und Namen. Ich höre gedankenverloren zu, etwas in mir sträubt sich gegen das Speichern dieser Art von Information, mir fehlt der Ehrgeiz, dagegenzuhalten, mit besseren Karten aufzutrumpfen. Ich horche erst auf, als das Gespräch eine allgemeinere Wendung nimmt: Es ist so, wie ich bereits vermutet hatte, selbst die zweitklassigen Weingüter sind inzwischen in den Händen großer Investoren. Kleinere Neueinsteiger können eventuell noch einen Platz im Anbaugebiet Entre deux Mers erwerben, aber es ist schwierig, einen guten Markt für diese Weine zu finden. Ich schaue mich im Saal um und fühle, dass ich hier mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht sein will.
    Auf dem Rückweg sitzt Simone neben mir im Auto. Etwas außerhalb von Bordeaux lässt sie ihren Blick durch das Fenster über die endlosen Weinfelder schweifen, gedankenverloren. Dann dreht sie sich zu mir um. »Hohe Wiesen«, sagt sie, »hohe Wiesen sind es. Mehr nicht.«
    Einmal in der Woche besuche ich jetzt Ike. Den Kontakt hat mir die »Alliance Française« vermittelt. Ike ist eine schlanke Dame mit glattem blonden Haar und aufrechtem Gang. Sie hat etwas Internationales, etwas Zeitloses, ohne große Schwierigkeiten kann man sie sich in einem luxuriösen Apartment in Paris, Mailand oder Barcelona vorstellen, allerdings eher in den Fünfzigerjahren als im Hier und Jetzt. In Wirklichkeit wohnt Ike nicht so weit von mir entfernt in einem klassisch eingerichteten Haus in Heemstede. Sie ist älter als ich. Wir führen andere Leben, aber schon bald entsteht eine gegenseitige Sympathie, sodass ich mich auf die Stunden mit ihr freue, die wir mit sorgfältig vorbereitetem Tee und Plätzchen beschließen, zu denen wir französische Chansons hören. Wir wiederholen die französische Grammatik, sie bringt mir die richtigen Redewendungen bei und korrigiert meine Konjugation. Die Stunden in dem ruhigen Zimmer mit seinem weichen Licht geben mir mehr als das: Ich beginne, die französische Sprache zu lieben.
    Fiene hat sich von einem mürrischen Baby, das mit sieben Monaten zum ersten Mal lächelte, zu einem immer noch bestimmten, aber auch lieben, fröhlichen und anhänglichen Kind entwickelt.
    Ich habe mehr Zeit für sie als damals für Marijn, und ich genieße es, sie morgens zu mir ins Bett zu nehmen und über ihren weichen Rücken zu streicheln. Sie wird wohl ein schlaues Mädchen werden – »sept, huit, neuf, dix!«, zählt sie fröhlich auf Französisch, da sie es auf Niederländisch bereits kann. Marijn geht mit vier in die Montessori-Grundschule am Rande von Heemstede, ein schönes, niedriges Gebäude mit viel Holz, das in den Zwanzigerjahren gebaut worden sein muss. Marijns Klasse ist ein großer, achteckiger Raum mit hohen Flügeltüren an drei Seiten, die auf einen ruhigen, von Bäumen umgebenen Spielplatz führen. Außer dem Gezwitscher der Kinderstimmen ist kein einziges anderes Geräusch zu hören, die Stadt scheint weit weg zu sein, und das Sonnenlicht fällt tief in den Klassenraum hinein.
    An den Wänden stehen Regale voll rätselhafter Kästen mit Perlen, Holzklötzen und Papier. Ein kleines Mädchen mit braunen Zöpfen rollt eine Matte auf dem Boden aus, auf der sie Holzbuchstaben in einer scheinbar logischen Reihenfolge auslegt. Andere Kinder ziehen sich Malschürzen an oder arbeiten mit Montessori-Material, ordnen Reihen und Platten aus miteinander verbundenen Perlen (»Goldenes Material«, wird Marijn schon bald stolz sagen) auf einem Brett an. Marijn sitzt ruhig neben mir auf einem Stuhl und beobachtet alles genau. Unter dem Tisch hält sie meine Hand fest, dann beugt sie sich plötzlich vor und küsst sie schnell.
    Neue Flaschen Wein stehen auf der Arbeitsplatte in
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