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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten
Autoren: Lidewij van Wilgen
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Menschen, die sich so wenig leiden konnten wie sie und ihr Mann. In einer Ecke löst sich ein Fetzen der rosa geblümten Tapete von der Wand, ein Nistplatz für eine Familie mir unbekannter Insekten in einem weißen durchsichtigen Netz.
    Ich betrete das Zimmer ihres Sohnes. Ich habe ihn nie kennengelernt, aber ich weiß, dass er arbeitslos war und den halben Tag im Bett lag. Besonders anregend kann es jedenfalls nicht gewesen sein, den lieben langen Tag im Spannungsfeld dieser zwei frustrierten Menschen zu verbringen. Ich stelle ihn mir vor, wie er auf dem schmalen Bett in der Ecke liegt und mit wütenden Bewegungen masturbiert. Diese Vinyltapete ist wirklich eine gute Wahl für das Zimmer eines Jungen – kurz irgendwas an die Wand gekleistert, fertig. Ich schaue mir die schmutzig beige Tapete an und versuche, mich nicht in Gedanken darüber zu verlieren, welchen Ursprung die Flecken darauf haben. Auf der nach vorne gelegenen Seite befinden sich zwei weitere schmale Zimmer. In dem einen hat eine Tochter gelebt, die schon lange nicht mehr zu Hause wohnte. Das zweite Zimmer beseelt eine andere tiefer versunkene Verlassenheit. Ich betrachte die verschlissene Tapete mit den blauen Kornblumen und versuche mir vorzustellen, wer hier wohl geschlafen haben mag, denke an das Bett aus Mahagoni-Holz, das dort ganz sicher gestanden hat, die steife Baumwollbettwäsche mit dem gehäkelten Rand. Es ist der einzige Teil des Hauses, in dem die originalen Sprossenfenster noch erhalten sind, wo die Decke von alten, braunen Balken getragen wird. Auch hier herrscht diese lastende, staubige Traurigkeit. Erschrocken wehre ich mich gegen die Frage, die sich mir plötzlich aufdrängt: Ist hier jemals irgendjemand glücklich gewesen?
    Ich gehe nach draußen, zurück zu meinem Auto, zu demselben dunkelblauen Volvo, den ich auch in den Niederlanden schon gefahren habe, und stehe im Schatten der großen Zypressen in dieser eindringlichen Leere, die sich um mich herum auftut. I have never found a companion that was so companionable as solitude , zitiere ich bitter in Gedanken, wobei ich mich an die Weinberge wende, die mich seelenlos anstarren. Noch niemals in meinem Leben war ich so alleine wie während dieser langen Tage in diesem weiten Land. Das also sind die viel beschworene Ruhe und die Stille, die von den Niederlanden aus so anziehend gewirkt haben, die mich den ersehnten buddhistischen Idealen von innerer Balance und Wahrheit näher bringen sollten.
    In Wirklichkeit aber werde ich morgens fast panisch, wenn ich die Fensterläden öffne und dieses leere Land vor mir sehe. Diese vollkommene Leere, diese Abwesenheit eines jeden Geräusches, das Fehlen jeglicher menschlichen Gegenwart – all das macht mir Angst.
    Manchmal wechsele ich ein paar Worte mit unserem einzigen Angestellten oder mit dem jungen Mann, der die Weinberge für uns bewirtschaftet. Sie haben ihre Arbeit, ihren festen Tagesablauf – meine einzige Aufgabe besteht darin, hier zu sein, und niemanden kümmert diese rein physische Anwesenheit. Man begegnet mir mit einem freundlichen Mitleid, die Menschen im Dorf grüßen mich, um sich dann wieder ihrem eigenen Leben zuzuwenden.
    So ist es, jemand zu sein, der keine Bedeutung hat.
    Zwei Jahre zuvor: Ich sitze hinter einem großen Schreibtisch aus gehärtetem Glas, darauf eine modern anmutende Aluminium-Leuchte und ein Stapel Ordner und Entwürfe. Ich bin 31, Strategische Leiterin in einer Amsterdamer Werbeagentur und mit acht Jahren Berufserfahrung beinahe ein Veteran in diesem Berufsfeld. Rob, der Leiter der Agentur, für die ich arbeite, lehnt sich lässig an den Türpfosten, wobei er ein Bein über das andere schlägt. »Ach Lidewij«, säuselt er, »kannst du nicht eine Brille aufsetzen? Mit Fensterglas? Nur dieses eine Mal?«
    Erst als ich am nächsten Tag mein Spiegelbild in dem glänzenden Mahagoni des gediegenen, altehrwürdigen Versammlungssaales betrachte, als ich die forschenden Blicke all der älteren Herren spüre, die umständlich schwere Füller und in Leder gebundene Notizblöcke vor sich auf den Tisch legen, verstehe ich Robs Bemerkung. Es ist ziemlich mutig von ihm, ein Mädchen wie mich vorzuschicken. Ich zögere eine Sekunde, öffne dann meinen Laptop und tauche mit dem blauen Licht, das sich verbreitet, in meine Präsentation ein. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie jemand nickt, ein großer Mann im
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