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Traenenengel

Traenenengel

Titel: Traenenengel
Autoren: Franziska Gehm
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Protest, ließ sie nicht mehr los, schob den Ärmel bis ganz nach oben. Sie starrte auf den nackten
     Arm ihrer Freundin. Nur mit Mühe ertrug sie den Anblick. Die Wunden waren aufgekratzt und bluteten. Manche Wunden sahen aus,
     als wären sie ganz neu, gerade eben erst zugefügt. Einige waren so tief, dass die Haut auseinanderklaffte und man das Fleisch
     sehen konnte.
    Floras Blut rann auf Trixis Hand, mit der sie den Arm festhielt. Sie bemerkte es nicht. Auch nicht,wie schnell ihr Atem ging und ihr Unterkiefer zu zittern begann. Es war, als rollte in Trixis Innerem eine Lawine an. Eine
     Lawine, die sie nicht mehr aufhalten konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte, eine Lawine, die sie hinwegfegen würde und
     alles, woran sie bisher geglaubt hatte.
    Auf einmal angeekelt stieß Trixi Floras Arm weg. Ohne Flora noch einmal in die Augen zu sehen, bückte sie sich und zerrte
     an Floras Longstockings.
    Flora trat wild um sich. »Ich hab gesagt lass das!«, schrie sie. »Hau ab!«
    Floras Fuß traf Trixi heftig an der Brust. Ein zweiter Tritt ihren Oberarm. Trixi taumelte rückwärts, fiel beinahe in den
     Vorhang. Sie ruderte mit den Armen. In letzter Sekunde bekam sie Floras Bein zu fassen, hielt sich daran fest, zog sich wieder
     nach vorne. Auf einmal spürte Trixi einen durchdringenden Schmerz auf dem Kopf. Flora zerrte an ihren Haaren, hatte ein Büschel
     herausgerissen. Der plötzliche Schmerz entfachte Wut in Trixi. Ihr war egal, ob sie Flora wehtat oder nicht. Alles war in
     dem Moment egal. Sie musste es wissen, musste es sehen, musste begreifen, was das alles zu bedeuten hatte.
    »Hau doch endlich ab!«, schrie Flora. »Lass mich in Ruhe!« Sie schlug mit den Fäusten auf Trixis Kopf.
    Trixis Kopfhaut brannte. Doch das war alles nichts gegen den Zorn und den Schmerz, den sie in ihrem Inneren spürte. Sie hielt
     kurz inne, holteAtem, dann stieß sie Flora mit beiden Händen mit voller Kraft an die hintere Kabinenwand.
    Flora schrie auf, von der Heftigkeit des Angriffs benommen, knallte gegen die Kabinenwand und rutschte an ihr nach unten auf
     den Fußboden, wo sie verstört sitzen blieb. Trixi riss ihr mit einer schnellen Bewegung die Longstockings herunter.
    Vor der Umkleidekabine waren Schritte zu hören. »Ist alles in Ordnung? Kann ich Ihnen helfen?«
    Trixi starrte auf Floras Beine. Sie keuchte. »Nein. Können Sie nicht.«
    Die Verkäuferin blieb noch ein paar Sekunden unentschlossen vor der Kabine stehen, dann entfernten sich die Schritte wieder.
    Langsam ging Trixi in die Hocke, den Blick noch immer auf Floras Beine gerichtet. Auch hier waren die Wunden aufgekratzt.
     Manche waren tiefer als zuvor, andere waren entzündet und eiterten. Es sah aus wie das Schlachtfeld eines Wahnsinnigen.
    »Was soll das?«, sagte sie so leise, dass es kaum zu hören war. Ihr Mund war trocken. »Was hast du getan?« Trixi wandte den
     Blick von den Wunden ab und sah voller Angst, Befremden und Ekel in Floras Gesicht.
    Flora saß auf dem Boden, in sich zusammengesunken. Sie starrte durch Trixi hindurch. Ihre Lippen bewegten sich, doch kam kein
     Laut aus ihrem Mund. Unentwegt drehte sie einen Schlüsselanhängerin den Händen, der wie ein kleines Taschenmesser aussah. Ihre Wimpern zitterten.
    Trixi starrte Flora an. »Was. Hast. Du. Getan?«
    Die Sekunden verstrichen, in denen nur Floras flackernder Atem zu hören war.
    »Warst du das? Alles?«, Trixi zeigte auf Floras Arme und Beine. Ihre Hand zitterte. »Von Anfang an? Du hast das selbst   ...?« Trixi legte die Hand über den Mund, ihr Unterkiefer bebte.
    Flora zog die Knie heran, streifte das lange Shirt darüber und schlang die Arme um die Beine.
    Einen Moment sagte keines der Mädchen was. Ihr Atem zitterte im Gleichklang.
    »Andro hätte mich finden sollen«, begann Flora mit leise klirrender Stimme. »Die ganze Zeit habe ich auf ihn gewartet. Gehofft,
     dass er zurückkommt. Ich habe es für ihn getan. Für uns.«
    »Was hast du getan?«
    Flora strich sich über eine der Wunden an ihren Unterschenkeln. »Ich wollte, dass er die Schmerzen sieht. Ich wollte sie spüren.
     Ich wollte mich spüren. Wenn das Blut über die Haut läuft, das ist wie Tränen, verstehst du, es sind nur Tränen.«
    Trixi schüttelte langsam den Kopf. »Wieso, Flora?«
    Flora schlug mit dem Hinterkopf gegen die Kabinenwand. »Es ist nicht wie in deinem Leben, Trixi. Bei mir kommt nach A und
     B nicht unweigerlich C.   Bei mir ist alles   ... alles XY.   Das kann ich nicht
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