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Traenenengel

Traenenengel

Titel: Traenenengel
Autoren: Franziska Gehm
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lächelte
     kurz, aber ihre Unterlippe zitterte dabei. Sie hatte sich verliebt, zum ersten Mal in ihrem Leben, in den Mann, der ihre beste
     Freundin misshandelt hat. Und sie womöglich auch.
    ***
    Sie zieht die Jätekralle durch die Reihen. Beet für Beet für Beet. Der Rücken gebeugt, die Beine gebogen. Beharrlich, entschlossen,
     mit Vehemenz. Ungeahnter Kraft.
    Hackt hackt hackt die Jätekralle.
    Unkraut vergeht nicht.
    Sie wendet sich vom Fenster ab. Die Bilder langweilen sie. Die Welt, in die sie sich selbst eingesperrt hat. Von Mauern, von
     Mitleid und von Angst umgeben.
    Sie setzt sich auf den Hocker. Sieht wieder ihr Gesicht. Ihre Tränen, die sie nie weinen konnte. Sie wird ganz klein, schrumpft
     zu einem winzigen Krümel zusammen. Staub, mehr ist sie nicht.
    Ach. Liebster , kannst du nicht schwimmen,
    so schwimme doch her zu mir,
    drei Kerzen will ich dir anzünden,
    und die sollen leuchten dir.
     
    Das hörte eine falsche Nonne,
    die tat, als wenn sie schlief,
    sie tät’ die Kerzen auslöschen,
    der Jüngling ertrank so tief.

19.   Kapitel
    Polizeihauptmeister Leif Sälzer schritt langsam durch den kleinen Park gleich neben der Polizeiwache, die eine Hand in der
     Hosentasche, in der anderen eine Salzstange. Zum ersten Mal seit Tagen schaffte es die Sonne, ein paar Strahlen durch die
     Wolkendecke zu zwängen.
    Bei der Bank, die nur noch einen Balken als Sitzfläche hatte, blieb er stehen. Das Holz, von dem die Farbe abgeblättert war,
     war von den letzten Regentagen durchweicht. Er starrte einen Moment auf eine Zigarettenschachtel, die jemand zerknittert und
     neben der Bank fallen gelassen hatte. Dann ging er weiter, achtete nicht auf die Pfützen, die den Weg wie Mondkrater bedeckten.
    Er hielt die Salzstange zwischen Zeigefinger und Mittelfinger und stupste das Ende von Zeit zu Zeit mit dem Daumen an. Hagen
     Gerlinger saß seit zwei Tagen in Untersuchungshaft. Gestern war er dem Haftrichter vorgeführt worden. In wenigen Tagen sollte
     die Verhandlung sein.
    In den zahlreichen Vernehmungen, die mit Hagen Gerlinger nach seiner Verhaftung geführt wurden, hatte er die Tat weiterhin
     geleugnet. Sein Vaterhatte ihm einen Anwalt besorgt. Doch der würde ihm wenig nützen. Durch Flora Duves Anzeige stand er unter dringendem Tatverdacht.
     Würde er die Tat nicht gestehen, stand Aussage gegen Aussage. Doch da waren noch die Indizien, die gegen ihn sprachen. Sälzer
     fand es erstaunlich, dass Hagen Gerlinger nicht einbrach und ein Geständnis ablegte. Er stand doch mit dem Rücken zur Wand.
     Mit etwas Kooperation konnte er das Strafmaß mitunter mindern. So standen ihm fünf, sechs, vielleicht sogar zehn Jahre Haft
     bevor. Er würde den Rest seiner Jugend hinter Gittern verbringen. Was erhoffte er sich davon, eine Tat zu leugnen, derer er
     eindeutig überführt war?
    Sälzer blieb stehen, biss ein kleines Stück von der Salzstange ab und starrte auf das Gebäude einer Realschule, das sich auf
     der anderen Seite des Parks gegenüber der Polizeiwache befand. Er hatte das Gebäude noch nie betreten, weder aus privaten
     noch aus beruflichen Gründen. Trotzdem musste er bei dem Anblick an Amelie Baudisch denken. Als Sälzer sie vor einem Jahr
     kennenlernte, war sie fünfzehn und ging auf eine Realschule in einem anderen Stadtteil. Sie war zierlich, genau wie Flora
     Duve, aber sonst ein anderer Typ. Ruhig, fast verschüchtert, mit leiser Stimme. Sälzer hatte damals immer das Bedürfnis, eine
     Schutzhaube über sie zu stülpen.
    Amelie war mehrfach misshandelt und missbrauchtworden. Genau wie Flora gab sie an, sich an nichts und niemanden zu erinnern. Es gab verschiedene Hinweise, dass der Täter
     aus ihrem unmittelbaren Umfeld stammen musste. Aber mit diesen Hinweisen allein hätten sie den Täter nie gefasst. Genau wie
     im Fall von Flora Duve.
    Amelies Eltern waren verzweifelt, dass ihre Tochter sich ihnen nicht anvertrauen wollte. Schließlich schalteten sie eine Sozialarbeiterin
     ein. Sie hat sehr viel Zeit mit Amelie verbracht, mehr Zeit, als Sälzer und sein Team jemals für diesen Fall aufbringen konnten.
     Und wahrscheinlich auch mehr Einfühlungsvermögen. Amelie vertraute sich der Sozialarbeiterin an, öffnete sich. Aus vielen
     kleinen Puzzleteilen entstand nach und nach ein Bild und die Sozialarbeiterin bekam eine Vermutung, die Amelie letztlich bestätigte:
     Der Täter kam tatsächlich aus ihrem direkten Umfeld. Es war einer ihrer Lehrer.
    »Sven Thiele«, murmelte Sälzer vor
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