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Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan

Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan

Titel: Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan
Autoren: Kathy Reichs
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verfolgten mich, als ich zu dem Verstorbenen ging. Beobachter Nummer vier faltete nun seine Hände vor den Genitalien.
    Avram Ferris sah nicht aus, als wäre er erst letzte Woche gestorben. Er sah aus, als wäre er während der Clinton-Ära gestorben. Seine Augen waren schwarz, die Zunge purpurn, die Haut oliv- und auberginefarben gesprenkelt. Sein Bauch war aufgebläht, sein Hodensack drall wie ein Wasserball.
    Ich schaute Ryan fragend an.
    »Die Temperatur in der Abstellkammer lag bei zweiundneunzig Fahrenheit«, sagte er.
    »Warum so heiß?«
    »Wir gehen davon aus, dass die Katzen ans Thermostat gekommen sind«, sagte Ryan.
    Ich rechnete schnell nach. Zweiundneunzig Fahrenheit. Knapp fünfunddreißig Celsius. Kein Wunder, dass Ferris einen Rekord in Verwesung aufstellte.
    Aber die Hitze war nur eins der Probleme dieses Herrn gewesen.
    Wenn wir Hunger haben, reagieren auch die Friedlichsten unter uns gereizt. Wenn wir am Verhungern sind, reagieren wir verzweifelt. Das Es setzt sich über die Moral hinweg. Wir essen. Wir überleben. Dieser gemeinsame Instinkt treibt Herdentiere, Raubtiere, Bataillone und Fußballmannschaften an.
    Da werden sogar Bello und Muschi zu Aasfressern.
    Avram Ferris hatte den Fehler gemacht, sich eine Kugel einzufangen, während er mit zwei Kurzhaarhauskatzen und einer Siamesin in einem Raum eingesperrt war.
    Und mit einem zu geringen Vorrat an Brekkies.
    Ich ging langsam um den Tisch herum.
    Das Schläfen- und das Scheitelbein auf Ferris’ linker Schädelseite waren merkwürdig nach außen gebogen. Obwohl ich das Hinterhauptsbein nicht sehen konnte, war es offensichtlich, dass er die Kugel in den Hinterkopf bekommen hatte.
    Ich zog Gummihandschuhe über, schob zwei Finger unter den Schädel und tastete. Der Knochen gab nach wie Pudding. Nur die Schädelschwarte hielt den Hinterkopf noch zusammen.
    Ich senkte den Kopf wieder ab und untersuchte das Gesicht.
    Es war schwierig, sich vorzustellen, wie Ferris zu Lebzeiten ausgesehen hatte. Seine linke Wange war angenagt. Zahnspuren kerbten den darunter liegenden Knochen, Splitter schillerten in der grellroten Pampe.
    Ferris’ rechte Gesichtshälfte war zwar aufgequollen und fleckig, ansonsten aber größtenteils intakt.
    Ich richtete mich auf und dachte über das Verstümmelungsmuster nach. Trotz der Hitze und des Fäulnisgestanks hatten die Katzen sich nicht an die rechte Gesichtshälfte oder weiter unten an den Rest des Körpers gewagt.
    Ich begriff jetzt, warum LaManche mich brauchte.
    »Gab es auf der linken Gesichtshälfte eine offene Wunde?«, fragte ich ihn.
    » Oui. Und eine zweite am Hinterkopf. Verwesung und Fraßspuren machen es unmöglich, den Weg der Kugel zu bestimmen.«
    »Ich brauche einen vollen Satz kranialer Röntgenaufnahmen«, sagte ich zu Lisa.
    »Ausrichtung?«
    »Alle Winkel. Und ich brauche den Schädel.«
    »Unmöglich.« Beobachter Nummer vier erwachte plötzlich zum Leben. »Wir haben eine Vereinbarung.«
    LaManche hob eine latexverhüllte Hand. »Ich habe die Pflicht, in dieser Sache die Wahrheit herauszufinden.«
    »Sie haben uns Ihr Wort gegeben, dass keinerlei Proben einbehalten werden.« Obwohl der Mann eine Gesichtsfarbe wie Haferschleim hatte, zeigten sich auf seinen Wangen jetzt rosige Knospen.
    »Außer wenn es absolut unvermeidbar ist.« LaManche war die Sachlichkeit in Person.
    Beobachter Nummer vier wandte sich dem Mann auf seiner Linken zu. Beobachter Nummer drei hob das Kinn und schaute durch gesenkte Lider nach unten.
    »Lassen Sie ihn sprechen.« Gelassen. Der Rabbi empfahl Geduld.
    LaManche wandte sich mir zu.
    »Dr. Brennan, fahren Sie mit Ihrer Untersuchung fort, wobei Sie jedoch den Schädel und alle nicht betroffenen Knochenpartien an Ort und Stelle belassen.«
    »Dr. LaManche …«
    »Wenn sich das als undurchführbar erweist, kehren Sie zur normalen Verfahrensweise zurück.«
    Ich mag es nicht, wenn man mir vorschreibt, wie ich meine Arbeit tun soll. Ich mag es nicht, mit weniger als den maximal zu erreichenden Informationen zu arbeiten oder weniger als das optimale Verfahren anzuwenden.
    Doch ich mag und respektiere Pierre LaManche. Er ist der beste Pathologe, den ich kenne.
    Ich schaute meinen Chef an. Der alte Mann nickte unmerklich. Ziehen Sie das mit mir durch , signalisierte er mir.
    Ich hob den Blick zu den Gesichtern über Avram Ferris. In jedem erkannte ich den uralten Kampf zwischen Dogma und Pragmatismus. Der Körper als Tempel. Der Körper als Gänge und Ganglien und Pisse und
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