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Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan

Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan

Titel: Totgeglaubte leben länger: 8. Fall mit Tempe Brennan
Autoren: Kathy Reichs
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Galle.
    In jedem sah ich Verlustschmerz.
    Denselben Schmerz, den ich erst Minuten zuvor mitgehört hatte.
    »Natürlich«, sagte ich leise. »Rufen Sie mich, bevor Sie die Schädelschwarte abziehen.«
    Ich schaute Ryan an. Er zwinkerte. Ryan der Bulle, hinter dem Ryan der Geliebte hervorlugte.
    Die Frau weinte noch immer, als ich den Autopsieflügel verließ. Ihre Begleiterin, oder ihre Begleiterinnen, waren jetzt still.
    Ich zögerte, weil ich mich nicht in persönliche Trauer eindrängen wollte.
    War es das? Oder war es nur eine Ausrede, weil ich nichts damit zu tun haben wollte?
    Ich werde oft Zeuge von Kummer. Immer und immer wieder bin ich an vorderster Front mit dabei, wenn Überlebende sich der plötzlichen Erkenntnis stellen müssen, dass ihr Leben sich radikal verändert hat. Mahlzeiten, die man nie mehr gemeinsam einnehmen wird. Gespräche, die nie geführt werden. Kinderbücher, die nie mehr laut vorgelesen werden.
    Ich sehe den Schmerz, aber ich kann keine Hilfe anbieten. Ich bin ein Außenstehender, ein Voyeur, der nach dem Unfall, nach dem Feuer, nach der Schießerei gafft. Ich gehöre zum Heulen der Sirenen, zum Spannen der Absperrbänder, zum Zuziehen des Leichensacks.
    Ich kann überwältigenden Kummer nicht lindern. Ich hasse meine Machtlosigkeit.
    Ich kam mir vor wie ein Feigling. Dennoch betrat ich das Familienzimmer.
    Zwei Frauen saßen nebeneinander, dicht zusammen, doch ohne sich zu berühren. Die jüngere hätte dreißig, aber auch fünfzig sein können. Sie hatte blasse Haut, dichte Augenbrauen und lockige, dunkle, im Nacken zusammengefasste Haare. Sie trug einen schwarzen Rock und einen langen, schwarzen Pullover mit hoch angesetzter Kapuze, die ihren Unterkiefer berührte.
    Die ältere Frau war so runzlig, dass sie mich an die Puppen aus getrockneten Äpfeln erinnerte, die in den Bergen von Carolina gebastelt werden. Sie trug ein knöchellanges Kleid, dessen Farbe irgendwo zwischen Schwarz und Purpur lag. Lose Fäden baumelten, wo eigentlich die oberen drei Knöpfe hätten sein sollen.
    Ich räusperte mich.
    Apfel-Oma hob den Kopf, und ich sah Tränen auf dem Gesicht der zehntausend Falten glänzen.
    »Mrs. Ferris?«
    Die knotigen Finger knüllten ein Taschentuch.
    »Ich bin Temperance Brennan. Ich assistiere bei Mr. Ferris’ Autopsie.«
    Der Kopf der alten Frau kippte nach rechts, und ihre Perücke verrutschte.
    »Mein aufrichtiges Beileid. Ich weiß, wie schwierig das für Sie ist.«
    Die Jüngere hob zwei atemberaubend fliederfarbene Augen. »Wirklich?«
    Gute Frage.
    Ein Verlust ist schwer zu verstehen. Ich weiß das. Mein Verständnis von Verlust ist unvollständig. Auch das weiß ich.
    Mein Bruder starb an Leukämie, als er gerade mal drei Jahre alt war. Meine Großmutter war bereits über neunzig, als ich sie verlor. Jedes Mal war die Trauer wie ein lebendiges Wesen, das in meinen Körper eindrang und sich tief im Mark und in den Nervenenden einnistete.
    Kevin war kaum mehr als ein Baby gewesen. Oma lebte in Erinnerungen, in denen ich nicht vorkam. Ich liebte sie beide. Aber sie waren nicht das ausschließliche Zentrum meines Lebens, und beide Todesfälle kamen nicht unerwartet.
    Wie geht man mit dem plötzlichen Tod eines Partners um? Eines Kindes?
    Ich wollte es mir gar nicht vorstellen.
    Die jüngere Frau machte weiter, wo sie aufgehört hätte. »Wie können Sie sich anmaßen, den Kummer zu verstehen, den wir empfinden?«
    Unnötig aggressiv, dachte ich. Auch linkische Beileidsbezeugungen sind Beileidsbezeugungen.
    »Natürlich kann ich das nicht«, sagte ich und schaute zwischen ihr und ihrer Begleiterin hin und her. »Das war wohl wirklich etwas anmaßend.«
    Keine der beiden Frauen sagte etwas.
    »Ich bedaure Ihren Verlust sehr.«
    Die junge Frau wartete so lange, dass ich schon glaubte, sie würde gar nicht mehr antworten.
    »Ich bin Miriam Ferris. Avram ist … war mein Ehemann.« Miriam hob die Hand und zögerte dann, als wüsste sie nicht mehr so recht, was sie damit machen wollte. »Dora ist Avrams Mutter.«
    Die Hand flatterte kurz in Doras Richtung und sank dann wieder zu ihrem Gegenstück.
    »Ich nehme an, unsere Anwesenheit bei der Autopsie ist gegen die Vorschriften. Wir können ja nichts tun.« Miriams Stimme klang heiser vor Trauer. »Das ist alles so …« Sie ließ den Satz unvollständig, nahm aber den Blick nicht von mir.
    Ich suchte nach etwas Tröstendem oder Aufmunterndem oder wenigstens Beruhigendem, das ich den beiden hätte sagen können. Aber mir fiel
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