Totentaenze
ersten Moment tatsächlich aufgehört hatte zu kauen.
»Meinst du, Levke wird wieder lebendig, wenn ich den Kaugummi ausspucke?«, sagte er dann seelenruhig und kaute weiter.
Die Tränen schossen mir in die Augen und meine Wangen brannten wie Feuer.
»Hört auf!«, sagte Herr Rentsch matt. »Ich bitte euch nun alle, auf eure Zimmer zu gehen. In ein paar Minuten wird ein Psychologenteam hier eintreffen – wer jetzt also nicht allein sein will …« Seine Stimme brach. »Und haltet euch bitte für die Fragen des Inspektors zur Verfügung«.
Sandra brach auf einmal in einen Weinkrampf aus, Jan war ganz grün im Gesicht und rannte zur Tür, Julia schluchzte: »Ich kann das nicht fassen, Levke kann doch nicht tot sein!« Frau Dr. Bart-Keferlein eilte zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. Ein paar andere diskutierten darüber, wieso Levke sich auch einfach von der Gruppe entfernt hatte, und mich überfiel die kalte Erkenntnis, dass ich niemals wieder mit Levke stundenlange Gespräche über unsere Eltern und über Gott und die Welt führen würde, niemals wieder mit ihr lachen, streiten und mich versöhnen würde …
Nun bin ich hier, vor den Katakomben. Werde ich in ein paar Minuten wirklich Levkes Mörder gegenüberstehen? Mein Herz beginnt, wie wild zu klopfen. Ich stoße mich von der Mauer ab, laufe nervös ein paar Schritte auf und ab. Wie war ich nur auf diese absurde Idee gekommen …?
Nachdem das Psychologenteam eingetroffen war, ging ich in unser Zimmer hinauf. Julia und Sandra waren unten geblieben, ich aber wollte alleine sein. Ich hatte kurz überlegt, ob ich meine Mutter anrufen sollte, aber es war mitten in der Nacht und sie würde es noch früh genug erfahren – erfahren, dass Levke tot war. Tot!
Mein Blick wanderte zu Levkes Bett. Ich schlug die Decke auf, unter der sie ihren uralten zerzausten Teddy versteckte, und drückte ihn an mich. Jetzt konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich ließ mich einfach aufs Bett fallen und weinte mich in einen unruhigen Schlaf.
Ein paar Stunden später – draußen fing es schon langsam an zu dämmern – schreckte ich hoch. Julia und Sandra hatten sich zusammen in ein Bett gelegt und waren fest umschlungen eingeschlafen.
Levke …
Ich konnte nicht mehr schlafen, die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich – und am Ende stand mir eines ganz klar vor Augen: Wenn der Mörder mir geschrieben hatte, konnte auch ich ihm schreiben, oder? Wenn es mir gelänge, den Mörder an den Tatort zu locken und ihn dort mit seiner Tat zu konfrontieren, würde er ganz sicher gestehen. Aber ich dürfte dort nicht mit der Polizei aufkreuzen. Oder sollte ich doch diesem Bianchi mit den blauen Augen Bescheid geben? Sie würden mich natürlich nicht dabei sein lassen. Und der Mörder würde garantiert merken, dass die Polizei und nicht ich auf ihn wartete.
Nein, ich war es Levke schuldig, ihren Mörder zu finden. Der Gedanke, dass das Letzte dieser Streit zwischen uns war, hörte nicht auf, mich zu quälen.
Warum aber schrieb der Mörder mir? Weil er etwas von mir wollte. Aufmerksamkeit … Verständnis vielleicht … ja, er will mir seine Tat erklären. Natürlich! Warum hatte ich das nicht vorher begriffen?
Wer hatte denn meine Nähe nach Levkes Verschwinden gesucht? Wer hatte meine Hand genommen, wer war auf der Kirchenbank nahe zu mir gerückt? Es konnte nur einer sein:
Sebastian!
Levke hatte ihn beleidigt, ihn bloßgestellt, sich über ihn lustig gemacht, ihn gekränkt. Sebastian hatte Levke toll gefunden, sie bewundert, hatte oft ihre Nähe gesucht, obwohl sie ihm gegenüber fast immer total abweisend war. Vielleicht wollte er sie küssen, unten, in den Katakomben, und sie hat sich gewehrt. Da wurde er wütend. All die aufgestaute Wut aus all den Demütigungen, die er aushalten musste, hat sich entladen …
Nachdem er ihre Leiche panisch einfach in ein Regal geschoben hatte, hat er anschließend angefangen, eine rätselhafte Geschichte zu konstruieren, die ihr Verschwinden erklärte. Ja – und er hat die SMS an mich geschrieben, weil er mich zu seiner Verbündeten machen wollte. Ist das wirklich plausibel?, fragte ich mich. Aber sicher, sagte meine innere Stimme. So war es. So muss es gewesen sein.
Sobald er mir alles erklärt hat, bringe ich ihn dazu, zur Polizei zu gehen und sich zu stellen, nahm ich mir vor und schrieb eine SMS an Levkes Handy.
Bin heute Nacht um 24 Uhr bei den Katakomben.
Der folgende Tag zog wie ein Film an mir vorbei –
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