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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte
Autoren: M. R. Hall
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Schüchternheit oder an den familiären Gepflogenheiten liegen, er behielt sie schließlich für sich und folgte den Crosbys hinaus.
    Als sie verschwunden waren, erinnerte sich Jenny vage an einen Radiobeitrag über eine junge Frau, die nicht mehr in ihre Wohnung in Bristol zurückgekehrt war. Sie hatte eine Ausbildung in Maybury gemacht, in dem abgeschalteten Atomkraftwerk, das drei Meilen östlich der Severn Bridge lag. Maybury und die anderen drei stillgelegten Atomkraftwerke an der Severnmündung waren in letzter Zeit häufig in die Diskussion geraten. Eine neue Generation von Wissenschaftlern sollte die fünfzig Jahre alten Reaktoren abbauen und neue errichten, die Regierung hatte bereits grünes Licht gegeben. Als sie die erhitzte Debatte verfolgte, hatte sich in Jenny ein pubertärer Idealismus gerührt, und sie hatte daran denken müssen, wie sie früher mit Kommilitonen zu Friedenscamps vor amerikanischen Luftstützpunkten gefahren war. Ihr kam es merkwürdig vor, dass nur eine Generation später eine junge Frau in dem Industriezweig arbeiten wollte, der für sie selbst der Inbegriff von Korruption und Gefahr gewesen war.
    Jenny streifte einen Latexhandschuh über, zog die Plastikhülle über das Gesicht der Jane Doe und schob die schwere Schublade wieder zu. Nachdem die Leichenhalle fünf Monate lang nur mit unzuverlässigen Aushilfen besetzt gewesen war, würde am Montag endlich ein neuer Gerichtsmediziner eintreffen und eine volle Stelle antreten. Als Coroner freutesich Jenny schon, dass sie bald wieder pünktlich mit Obduktionsberichten versorgt werden würde und ihre Nachmittage nicht mehr mit Dingen vergeuden musste, für die eigentlich andere zuständig waren. In ihrem Büro, dem die miserable finanzielle Situation anzumerken war, war es nicht leicht, eine gewisse professionelle Würde zu wahren, und obwohl Jenny mittlerweile ein paar hundert Leichen in jedem erdenklichen Stadium der Verstümmelung und Verwesung zu Gesicht bekommen hatte, versetzte die räumliche Nähe zu ihnen sie immer noch in Panik.
    Sie entsorgte den benutzten Handschuh und eilte in die eisige Luft hinaus, so schnell ihre schmalen Absätze es zuließen. Sie hatte einen Termin einzuhalten.
    Der Tod und ihre angespannte Beziehung zu ihm verschlang die meiste Zeit der Sitzungen, zu denen sie alle vierzehn Tage bei Dr. Allen in seinem Sprechzimmer im Chepstow Hospital erschien. Die Fortschritte waren langsam und die Erkenntnisse gering, aber mit den Antidepressiva und Betablockern kam Jenny gut zurecht, und auch das Verbot von Alkohol und Beruhigungsmitteln hielt sie im Großen und Ganzen ein. Obwohl sie alles andere als geheilt war, hatte sie dank der Chemie ihre Angststörung in den letzten fünf Monaten mehr oder weniger in den Griff bekommen.
    Förmlich wie immer griff der jungenhafte Dr. Allen zu dem dicken schwarzen Notizbuch, das er ausschließlich für ihre Sitzungen benutzte. Er blätterte zum letzten Eintrag und las ihn aufmerksam durch. Jenny wartete geduldig. Sie hatte sich ein paar höfliche Antworten auf die Fragen nach ihrem Sohn Ross zurechtgelegt, mit denen Dr. Allen die Sitzungen für gewöhnlich eröffnete. Nach einer Weile spürte sie, dass irgendetwas anders war als sonst. Dr. Allen schien in Gedanken versunken.
    »Träume …«, sagte er. »Ich neige nicht dazu, ihnen allzu viel Bedeutung beizumessen. Normalerweise spiegelt sich nur der aufbereitete Müll des Tages darin wider. Allerdings muss ich zugeben, dass ich ein paar Dinge darüber gelesen habe.« Sein Blick blieb fest auf das Notizbuch gerichtet.
    »Aha?«
    »Ja. Am College habe ich mich ein wenig mit der Psychoanalyse von C.G. Jung beschäftigt, aber niemand bestärkte mich darin. Mein Professor sagte, es sei eine Sackgasse. Noch nie sei ein Patient gesund geworden, weil man die Bedeutung seiner Träume verstanden habe.«
    »Heißt das, ich habe Sie zur Verzweiflung getrieben?«
    »Überhaupt nicht.« Er blätterte erneut in seinen Notizen und suchte einen früheren Eintrag. »Mir ist nur wieder eingefallen, dass Sie in der Zeit, als Sie die aktuellen Medikamente noch nicht genommen haben, ziemlich lebhaft geträumt haben … Genau, hier ist es.« Er hatte das Gesuchte gefunden. »Ein unheimlicher Spalt in der Wand Ihres Kinderzimmers, hinter dem sich ein finsterer, verbotener Raum auftut. Etwas Schreckliches lauert dort, das Sie weder sehen noch sich vollständig vorstellen können … Unaussprechliche Panik befällt Sie, wenn Sie es beschreiben
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