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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte
Autoren: M. R. Hall
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erzählt hatte. Zunächst wirkte sie misstrauisch, aber als sie merkte,dass Jenny aufmerksam zuhörte und sich detaillierte Notizen machte, entspannte sie sich allmählich und sprach flüssiger. Sie unterbrach sich nur, um Tränen wegzuwischen und sich für ihre Gefühlsausbrüche zu entschuldigen. Sie war eine extrem nervöse, aber stolze Frau, dachte Jenny. Hätte sie in ihrem Leben die entsprechenden Chancen gehabt, würde sie jetzt vielleicht auf der anderen Seite des Schreibtischs sitzen.
    Je mehr Jenny zu hören bekam, desto stärker wühlte sie die Geschichte auf.
    Amira Jamal und ihr Ehemann Zachariah waren beide in den Sechzigerjahren als Kinder nach England gekommen. Die Ehe war von ihren Familien arrangiert worden, als sie beide Anfang zwanzig gewesen waren, doch glücklicherweise hatten sie sich ineinander verliebt. Zachariah wurde Zahnarzt, und Anfang der Achtziger zogen sie nach Bristol, damit er in die Praxis seines Onkels einsteigen konnte. Sie waren schon drei Jahre verheiratet, als Amira endlich schwanger wurde. Eine große Erleichterung, denn sie hatte schon befürchtet, die erzkonservative Familie ihres Ehemanns könnte wegen der bisherigen Kinderlosigkeit Druck auf ihn ausüben, sich von ihr scheiden zu lassen oder eine weitere Frau zu heiraten. Als sie einen gesunden Jungen zur Welt brachte, war die Freude groß.
    Die hingebungsvollen Eltern schenkten Nazim all ihre Liebe und Aufmerksamkeit, und so absolvierte er die Grundschule mit wehenden Fahnen und bekam ein Stipendium für das renommierte Clifton College. Während ihr Sohn vollkommen in der britischen Kultur aufging, gewöhnten sich auch Amira und Zachariah als Eltern eines Privatschulschülers an ihr neues soziales Milieu. Nazim eilte von Erfolg zu Erfolg, erzielte Bestnoten und spielte Tennis und Badminton in den Schulmannschaften.
    Zum ersten Mal wurde die Familie erschüttert, als Nazim siebzehn war und sein letztes Schuljahr begann. Nachdem sie so viel Zeit mit anderen Müttern verbracht hatte, sehnte sich Amira mittlerweile nach Dingen, die ihr in ihrem häuslichen Gefängnis verwehrt blieben. Gegen Zachariahs Willen bestand sie darauf, arbeiten zu gehen. Die einzige Stelle, die sie finden konnte, war die als Verkäuferin in einer respektablen Modeboutique. Doch für ihren Ehemann war das nicht akzeptabel, und so stellte er sie vor die Wahl – er oder die Arbeit. Sie hielt alles für einen Bluff und entschied sich für den Job. Noch am selben Abend warteten daheim ihre zwei Schwäger auf sie und teilten ihr mit, dass ihr Mann sich scheiden lasse. Sie habe sofort auszuziehen.
    Nazim gab dem Druck der Familie nach und lebte weiter bei seinem Vater, der kurz darauf eine jüngere Frau heiratete und mit ihr drei weitere Kinder zeugte. Amira wurde in eine Mietwohnung abgeschoben. Nazim besuchte sie regelmäßig an mehreren Abenden in der Woche und lehnte einen Studienplatz am Imperial College in London ab, um sie nicht alleine zu lassen. Stattdessen studierte er Physik an der Universität von Bristol.
    Im Herbst 2001, als die Welt aus den Angeln gehoben und das Wort Muslim zum Synonym für Grausamkeit geworden war, begann er sein Studium. Da er sich nicht für Politik interessierte, redete Nazim kaum über die Ereignisse in Amerika. Er freute sich nur, auf die Uni gehen zu können, und beschloss in einer ersten Rebellion gegen seinen Vater, auf dem Campus zu wohnen.
    »In jenem Jahr habe ich ihn nur selten gesehen«, sagte Mrs. Jamal. Sie klang gleichzeitig traurig und stolz. »Er hatte so viel mit seinem Studium zu tun und auch mit dem Tennistraining, weil er unbedingt in die Universitätsmannschaft wollte. Wenn er mich dann besuchte, überraschte es michimmer, wie gut er aussah, so glücklich. Er war kein Junge mehr, sondern ein richtiger Mann.« Ihre Stimme wurde wieder brüchig, und sie schwieg einen Moment. »Im zweiten Trimester, nach den Weihnachtsferien, entfernte er sich zunehmend von mir. Ich habe ihn nur drei, vier Mal gesehen. Natürlich fiel mir auf, dass er plötzlich einen Bart hatte und manchmal auch eine Gebetskappe trug, die taqiya . Ich war schockiert. Selbst mein Ehemann trug westliche Kleidung. Einmal kam Nazim vollständig traditionell gekleidet zu mir. Er trug ein weißes Gewand und einen sirwal , so wie die Araber. Als ich ihn nach dem Grund dafür fragte, sagte er, dass sich viele seiner muslimischen Freunde so kleideten.«
    »Er war religiös geworden?«
    »Unsere Familie war immer religiös, aber gemäßigt,
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