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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte
Autoren: M. R. Hall
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nicht verstehen. Sie hat ohne Punkt und Komma geredet.«
    »Großartig.« Jenny nahm die Berichte und bemerkte plötzlich, dass Alison über ihrem grob gestrickten Rollkragenpullover ein goldenes Kreuz trug. Mit ihren knapp fünfundfünfzig Jahren war ihre Assistentin gar nicht mal unattraktiv – sie war gut gebaut und färbte ihren dichten Bubikopf in einem natürlichen Blond –, aber seit sie sich den Evangelikalen zugewandt hatte, war sie irgendwie gesetzter geworden.
    »Ein Taufgeschenk«, sagte Alison fast trotzig und wandte sich wieder ihren E-Mails zu.
    »Aha.« Jenny wusste nicht, was sie sagen sollte. »War die Taufe erst kürzlich?«
    »Gestern.«
    »Oh. Herzlichen Glückwunsch.«
    »Sie haben doch kein Problem damit, wenn ich es bei der Arbeit trage, oder?«, fragte Alison.
    »Machen Sie nur.« Jenny lächelte gleichgültig, trat durch die schwere Eichentür in ihr Büro und fragte sich, ob sie in Alisons Alter auch so sein würde. Kirchliches Engagement und späte Bekehrung zum Lesbentum schienen die häufigsten Symptome zu sein. Schwer zu sagen, wofür sie selbst sichentscheiden würde, würde sie jemand vor die Wahl stellen. Vielleicht würde sie beides ausprobieren.
    Amira Jamal war eine kleine, rundliche Frau, keine eins sechzig groß und älter als fünfzig. Sie trug ein schickes schwarzes Kostüm und hatte sich kunstvoll einen Seidenschal um den Kopf geschlungen. Als sie sich setzte, nahm sie ihn ab und drapierte ihn sich um die Schulter. Aus einem kleinen Trolley zog sie eine Archivbox, die etliche Dokumente, Papiere und Zeitungsartikel enthielt. Die Frau wirkte gebildet, aber auch emotional und erschöpft. In kurzen, aufgeregten Sätzen erzählte sie von ihrem vermissten Sohn, als nähme sie an, dass Jenny mit dem Fall längst vertraut war.
    »Sieben Jahre hat es gedauert«, sagte Mrs. Jamal. » Sieben Jahre . Letzte Woche bin ich zum High Court nach London gefahren, zum Familiengericht. Es war ein langer Kampf, überhaupt so weit zu kommen. Ich habe meinen Anwalt feuern müssen, den vierten schon. Keiner von diesen Idioten wollte mir glauben, aber ich wusste, dass der Richter mir zuhören würde. Die Leute können sagen, was sie wollen, ich habe immer an das britische Rechtssystem geglaubt. Schauen Sie sich das hier an …« Sie griff nach der Schachtel.
    »Einen Moment bitte, Mrs. Jamal«, sagte Jenny verwirrt, blieb aber geduldig. »Ich fürchte, wir müssen von vorne anfangen.«
    »Was müssen wir?« Mrs. Jamal sah Jenny aus tiefbraunen, verständnislosen Augen an. Die Wimpern waren schwer von Mascara und die Augen stark mit Lidstrich betont.
    »Ich höre zum ersten Mal von Ihrem Fall. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen.«
    »Aber der Richter hat doch gesagt, dass ich mich an Sie wenden soll«, erklärte Mrs. Jamal mit einem panischen Unterton in der Stimme.
    »Richtig. Aber als Coroner bin ich eine unabhängige Instanz. Wenn ich mir einen Fall anschaue, beginne ich ganz am Anfang. Sie müssten mir also bitte erzählen, was passiert ist.«
    Mrs. Jamal blätterte in ihren unsortierten Papieren herum und schob ihr schließlich eine gerichtliche Verfügung hin. »Hier.«
    Jenny sah, dass sie aus der letzten Woche datierte, von Freitag, dem 22. Januar. Mrs. Justice Haines vom Familiengericht am Höchsten Gerichtshof erklärte, dass Nazim Jamal, geboren am 5. Mai 1982, vermisst gemeldet am 1. Juli 2002, woran sich seit sieben Jahren nichts geändert hatte, für tot gehalten wurde.
    »Nazim Jamal ist Ihr Sohn?«
    »Mein einziger Sohn. Mein einziges Kind … Alles, was ich hatte.« Sie rang ihre Hände und schaukelte vor und zurück, was, so vermutete Jenny, bei den Anwälten mehr Verärgerung als Sympathie ausgelöst haben dürfte. Allerdings hatte sie in den fünfzehn Jahren, die sie als Familienanwältin einer viel beschäftigten Stadtbehörde gearbeitet hatte, genug verzweifelte Mütter erlebt, um Theater und Wirklichkeit unterscheiden zu können. Was sie in den Augen von Mrs. Jamal sah, das war echte Qual. Trotz ihrer intuition Vorbehalte beschloss Jenny, sich die Geschichte anzuhören.
    »Vielleicht können Sie mir erzählen, was passiert ist, ganz von vorn.«
    Mrs. Jamal starrte sie an, als hätte sie für einen Moment vergessen, weshalb sie überhaupt hier war.
    »Dürfen wir Ihnen einen Tee anbieten?«, fragte Jenny.
    Mit einer Tasse von Alisons starkem Tee bewaffnet begann Mrs. Jamal mit der Geschichte, die sie skeptischen Polizisten und Rechtsanwälten schon unzählige Male
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