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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte
Autoren: M. R. Hall
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auslöste. Wie ein Elektroschock durchzuckte es ihren Körper.
    »Sie hatten einen Traum?«
    »Ich hatte einen … denselben …« Ihre Worte quälten sich zwischen erstickten Schluchzern hervor.
    »Wann?«
    »Vor vielen Jahren … Ich war neunzehn … zwanzig …«
    »Erzählen Sie mir davon.«
    »Da ist ein Garten.« Das Bild stand ihr klar vor Augen. »Und viele Kinder. Kleine Mädchen mit Röcken und Zöpfchen … Sie gehen in Dreiergruppen hintereinander her, halten sich an den Händen und hüpfen. Die Stimmung ist fröhlich. Dann …« Sie presste das durchgeweichte Taschentuch an ihre Augen. »Dann bleiben sie stehen. Immer zwei Mädchen aus den Dreiergruppen halten ein Seil in der Hand. Das dritte springt … Und wenn das Seil über seinen Kopf schwingt, verschwindet es.«
    »Wer verschwindet?«
    »Die Mädchen in der Mitte.«
    Dr. Allen schrieb etwas in sein Notizbuch. »Wohin verschwinden sie?«
    »Wohin? Ich habe … Ich weiß nicht … Da ist nur ein Nichts .«
    »Und die Mädchen, die zurückbleiben?«
    »Die scheinen nichts zu bemerken.«
    »Das ist alles?«
    »Ja.« Jenny atmete tief ein. Die Welle der Angst ebbte langsam ab und ließ sie benommen zurück – wie gestrandet. Sie schaute aus dem Fenster und sah, wie der Regen im gelblichen Licht auf die öde Grünanlage fiel.
    »Wie alt waren Sie noch mal, als Sie diesen Traum hatten?«
    »Ich habe studiert … Er kam immer wieder. Ich kann mich erinnern, dass er mich tagelang belastet hat, obwohl es doch eigentlich eine sorglose Zeit hätte sein sollen.«
    »Was bedeutet er Ihrer Meinung nach?«
    Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte an dem Glauben festhalten, keine Ahnung zu haben, aber die Worte bildeten sich wie von selbst und sprudelten fast gegen ihren Willen aus ihr heraus. »Für alles, das existiert, gibt es ein Nichts. Jeder Gegenstand verweist auf seine Abwesenheit … Es ist nicht der Tod, vor dem ich Angst habe. Es ist die Leere .«
    »Die Angst zu verschwinden?«
    »Nein.« Sie hatte große Mühe, ihren Gemütszustand in Worte zu fassen. »Eher die Angst, dort zu sein, wo nichts ist … Und nicht dort, wo alles ist.«
    Dr. Allen machte sichtbare Anstrengungen zu verstehen. »So als wäre man am falschen Ende eines Fernrohrs gefangen? Jenseits von Zeit und Raum und allen Zusammenhängen?«
    »So ähnlich.«
    Stille trat ein, als Dr. Allen seine Notizen überflog. Dann rieb er sich die Augen. Offensichtlich kämpfte er mit einem beunruhigenden Gedanken, den er trotz allem aber aussprechen musste. Er sah auf und musterte sie eine Weile, bevor er zu reden begann. »Sind Sie gläubig, Mrs. Cooper?« Dass er sie mit ihrem Nachnamen ansprach, verriet sein Unbehagen.
    »Warum fragen Sie?«
    »Die Dreifaltigkeit ist ein wichtiges christliches Symbol. Vater, Sohn und Heiliger Geist …«
    »Viele Dinge treten in Dreiergruppen auf: Vater, Mutter, Kind. Gut, schlecht, neutral. Himmel, Erde, Hölle.«
    »Ein gutes Beispiel. Sie sind im Glauben erzogen worden, wie ich mich erinnere. Die Begriffe sind Ihnen geläufig.«
    »Wir waren Anglikaner, irgendetwas in der Richtung. Ich ging zur Sonntagsschule.«
    Dr. Allen wirkte nachdenklich. »Wissen Sie, vermutlich haben Sie recht. Irgendetwas fehlt – das Mädchen, der Raum hinter dem Zimmer. Ob es sich dabei nun um etwas Psychisches, Physisches oder Spirituelles handelt, kann ich noch nicht sagen, aber oft ist es so, dass wir uns am meisten vor dem fürchten, was wir brauchen. Die eindrucksvollsten Geschichten handeln von seltsamen Rettern – Dämonen, die zu Vorbildern werden. Der heilige Paulus zum Beispiel oder …«
    »Darth Vader?«
    Er lächelte. »Warum nicht?«
    »Das hört sich nach der guten alten Diagnose von Verdrängung an. Glauben Sie mir, ich habe versucht, alles rauszulassen. Es war keine erfreuliche Erfahrung.«
    »Würden Sie mir einen Gefallen tun?« Dr. Allen war plötzlich ernst. »Mir wäre sehr daran gelegen, noch etwas zu versuchen, um vielleicht einen entscheidenden Schritt vorwärtszukommen.«
    »Schießen Sie los.«
    »Könnten Sie in den nächsten vierzehn Tagen ein Tagebuch führen? Schreiben Sie Ihre Gefühle auf, Ihre Impulse, auch Widersprüchliches, egal wie abstrus oder irrational es Ihnen vorkommen mag.«
    »Um was zu finden?«
    »Das werden wir erst wissen, wenn wir es sehen.«
    »Sie können ruhig ehrlich sein. Ist das jetzt der letzte Versuch?«
    Er schüttelte den Kopf und lächelte freundlich. »Ich wäre nicht hier, wenn ich nicht der Überzeugung wäre, dass ich
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