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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte
Autoren: M. R. Hall
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schritten drei verschiedene Paare den Gang entlang und wappneten sich für den Moment, in dem sie auf den kahlen Kopf und die Schultern der Jane Doe mit ihrer mittlerweile papierenen, gelblichen Haut hinabschauen würden. Und eins nach dem anderen schüttelten die Paare den Kopf, erleichtert und zugleich hilflos und ängstlich, weil ihnen bewusst war, dass sie sich dieser Tortur nicht zum letzten Mal unterzogen hatten.
    Das Auftreten des Mannes mit den grünen Augen war anders als das der restlichen Wartenden. Seine Schritte näherten sich forsch, und seine Art war eher schroff und geschäftsmäßig. Er schien damit seine Traurigkeit und Unsicherheit überspielen zu wollen. Jenny interpretierte dies als Ausdruck von Bedauern. Ohne mit der Wimper zu zucken, schaute er auf das Gesicht der Jane Doe hinab, musterte es eine Weile und schüttelte dann entschieden den Kopf. Neugierig fragte Jenny, nach wem er denn suche. Mit einem kultivierten amerikanischen Akzent erklärte er knapp, dass seine Stieftochter nach England gereist sei und sich seit etlichen Wochen nicht mehr gemeldet habe. Ihre letzte Mail habe sie aus einem Internetcafé in Bristol geschickt. Die Polizei habe ihm von der unidentifizierten Leiche erzählt. Bevor Jenny noch einen Vorwand finden konnte, das Gespräch fortzusetzen, wandte er sich von ihr ab und verschwand so schnell, wie er gekommen war.
    Mr. und Mrs. Crosby trafen nach dem Pulk ein. Er war Ende fünfzig und trug einen Anzug, der auf eine höhere berufliche Stellung oder eine erfolgreiche Karriere als Geschäftsmann schließen ließ. Seine Frau war etliche Jahre jünger. Ihrem Gesicht sah man das Alter nicht an, und sie besaß die sanften Umgangsformen einer Person, die sich nicht mit harter Arbeit im Job aufreiben musste. Begleitet wurden die beiden von einem Mann Ende zwanzig, der ebenfalls Anzug und Krawatte trug. Mr. Crosby stellte ihn steif als Michael Stevens vor, den Freund seiner Tochter. Die Bezeichnung schien ihm Unbehagen zu bereiten – ein Vater, der noch nicht bereit war, das Gefühlsleben seiner erwachsenen Tochter zu akzeptieren. Jenny schenkte ihnen ein mitfühlendes Lächeln und beobachtete, wie sie die Leiche betrachteten, die Züge des leblos vor sich hin starrenden Gesichts musterten, sich einen Blick zuwarfen und dann die Köpfe schüttelten.
    »Nein, das ist nicht Anna Rose«, sagte Mrs. Crosby leicht zögerlich. »Ihre Haare sind viel kürzer.«
    Ihrem Ehemann schien die Begründung zu genügen. Der junge Mann hingegen warf noch einen schnellen Blick aufden Körper, weil er offenbar klug genug war, um zu wissen, dass sich Tote auf irreführende Weise von Lebenden unterscheiden konnten.
    »Die Augen sind aus Glas«, sagte Jenny. »Die Farbe stimmt also möglicherweise nicht mit der originalen überein. Besondere Kennzeichen gibt es keine. Außerdem war ihr Körper vollständig depiliert.«
    Mr. Crosby warf ihr einen fragenden Blick zu.
    »Enthaart«, erklärte seine Frau.
    Er brummte etwas vor sich hin.
    »Das ist sie nicht«, sagte Michael Stevens schließlich. »Das ist sie ganz bestimmt nicht.«
    »Falls Sie sich in irgendeiner Weise unsicher sein sollten, rate ich Ihnen zu dem DNA-Test«, sagte Jenny zu den Eltern.
    »Wir haben Anna Rose adoptiert«, sagte Mrs. Crosby. »Aber ich denke, dass wir für den Abgleich irgendetwas von ihr finden können. Eine Bürste würde helfen, oder?«
    »Eine Haarprobe wäre perfekt.«
    Mr. Crosby bedankte sich knapp und legte die Hand um die Taille seiner Frau, aber als er sie wegführen wollte, drehte sie sich zu Jenny um.
    »Anna Rose ist schon seit zehn Tagen vermisst. Sie studiert Physik und arbeitet zusammen mit Mike in Maybury. Es gab keinerlei Probleme. Sie schien vollkommen glücklich zu sein.« Mrs. Crosby schwieg einen Moment lang, um sich zu fassen. »Kommt so etwas häufig vor?«
    Mr. Crosby war von der Naivität seiner Frau peinlich berührt und schaute zu Boden. Mike Stevens sah unsicher zwischen den Eltern seiner vermissten Freundin hin und her. Seine Augen verrieten seine Unruhe. Er war der Situation nicht gewachsen.
    »Nein. Nicht oft«, sagte Jenny. »Meiner Erfahrung nach kündigt sich Selbstmord – falls Sie darauf hinauswollen –unweigerlich durch Depressionen an. Ich denke, wenn man einer Person nahesteht, würde man das merken.«
    »Danke«, sagte Mrs. Crosby. »Danke.«
    Ihr Ehemann schob sie fort.
    Mike Stevens warf Jenny einen kurzen Blick zu, als hätte auch er noch eine Frage. Mochte es nun an seiner
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