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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte
Autoren: M. R. Hall
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sollen.«
    Jenny spürte, wie sich ihre Herzgefäße weiteten. Ihr Gesicht wurde heiß. Sie versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Ruhig bleiben, ruhig sprechen , sagte sie sich ein ums andere Mal.
    »Das stimmt. Diese Träume hatte ich.«
    »Wie alt waren Sie, als sie zum ersten Mal auftraten?« Er wandte sich der leeren Seite des Notizbuches zu und war jetzt bereit und aufmerksam.
    »Anfang dreißig, glaube ich.«
    »Das war eine anstrengende Zeit. Sie mussten Arbeit und Muttersein unter einen Hut bringen, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Und wie alt sind Sie in Ihren Träumen?«
    »Ich bin ein Kind.«
    »Sind Sie sich sicher?«
    »Ich sehe mich nie selbst. Vermutlich gehe ich einfach davon aus.«
    »Und als Kind fühlen Sie sich hilflos? Sie geraten in Panik wegen einer Bedrohung, die sich Ihrer Kontrolle entzieht?«
    Sie nickte. »Ich ahne schon, was Sie als Nächstes sagen werden.«
    »Nämlich?«
    »Dass der Traum nichts mit meiner Kindheit zu tun hat. Dass er nur meine Angst und mein Gefühl der Ohnmacht widerspiegelt.«
    »Das ist eine Interpretation.« Er machte ein langes Gesicht, weil sie seine Theorie so mühelos vorweggenommen hatte.
    »Stimmt. Trotzdem bleibt die Tatsache, dass ich an die Zeit, als ich vier und fünf war, keine Erinnerungen habe. Und erzählen Sie mir bitte nicht, dass ich mir die Gedächtnislücke nur einbilde.« Sie starrte ihn auf eine Weise an, die ihm zu denken gab.
    »Einer bestimmten Schule zufolge lässt so etwas auf einen unterbewussten Verteidigungsmechanismus schließen«, sagte Dr. Allen dann. »Dieser erzeugt einen Puffer, wenn Sie so wollen, und in die Leerstelle projiziert das Bewusstsein dann einen glaubwürdigen Grund für sein Leid. Ein intelligenter, rationaler Verstand wie der Ihre – so die Theorie – würde eine Geschichte konstruieren, die vor allem den Ansprüchen einer logischen Erklärung gerecht wird. Während der Schmerz also anhält, muss sich der Verstand mit der Vorstellung abfinden, dass die allem zugrunde liegende Ursache unentdeckt bleibt.«
    »Das bleibt sie ja auch«, unterbrach sie ihn.
    »Was ist aber, wenn wir nach der falschen Ursache suchen? Vielleicht ist sie ja ganz einfach – bloßer Stress zum Beispiel?«
    Jenny dachte über die Möglichkeit nach, obwohl ihr durchaus bewusst war, dass Dr. Allen sie vielleicht nur in die Irre führte. Wollte er sie mit einem neuartigen Gedanken ablenken, bevor er die entscheidende Frage stellen würde, wenn sie gerade nicht auf der Hut war? Sie wartete darauf, dass er weitersprach, aber es kam nichts.
    »Was meinen Sie dazu?«, fragte er dann. Seine Augen glänzten angesichts der genialen Einfachheit seiner Diagnose.
    »Gleich werden Sie mir vorschlagen, dass ich Urlaub machen oder den Job wechseln soll.«
    Seine Stimme bekam eine strenge Note. »Um ehrlich zu sein, haben Sie sich hartnäckig geweigert, eine dieser altbewährten Methoden auch nur in Betracht zu ziehen.«
    Jenny strich ihren Rock glatt, um ihre Niedergeschlagenheit zu verbergen. »Ist das die höfliche Art und Weise, mir mitzuteilen, dass wir alles ausgeschöpft haben, was man sinnvollerweise für mich tun kann?«
    »Ich möchte nur das Naheliegende ausschließen.«
    »Und dann?«
    »Wenigstens ein etwas längerer Urlaub …«
    »Ich werde Ihnen sagen, was im Urlaub mit mir geschieht. Alles kehrt zurück – die Angst, die unerwünschten Gedanken, die irrationalen Befürchtungen, die Träume …« Sie machte eine Pause. Die Zunge fühlte sich schwer an in ihrem Mund, jüngster Zuwachs auf der stetig wachsenden Liste von Nebenwirkungen.
    »Was ist los, Jenny?«
    Sie sah die Tränen schon in ihrem Schoß landen, noch bevor sie in ihren Augen aufstiegen.
    »Warum weinen Sie?«
    Es gab keinen unmittelbaren Grund dafür, nur ein vages, vertrautes Angstgefühl, das sich ihrer bemächtigte, so als würden sich riesige Hände um ihren Verstand legen und ihn ersticken. »Ich weiß nicht …«
    »Das letzte Wort, das Sie gesagt haben, war Träume .«
    Noch mehr Tränen. Die unbestimmte Angst wurde schlimmer. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, und ihre Hand zitterte, als sie sie nach der stets griffbereiten Schachtel mit den Papiertaschentüchern ausstreckte.
    »Erzählen Sie mir von Ihren Träumen.«
    Sie schüttelte den Kopf. Die Medikamente hatten die Träume verschwinden lassen – oder Jenny vor ihnen geschützt. Dann aber blitzte etwas in ihrer Erinnerung auf, ein einzelnes Bild, das sich mit ihrer Angst verband und ein weiteres Zittern
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