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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte
Autoren: M. R. Hall
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Ihnen helfen kann.«
    Jenny tat so, als würde seine Antwort sie trösten, aber sie konnte sich nicht gegen das Gefühl wehren, dass die Therapie eine Sackgasse war. Noch hatte sie ein Fünkchen Hoffnung, dass sie irgendwann in den blauen Himmel aufschauen und dabei nichts als ungetrübtes Glück verspüren würde. Wie es dazu kommen sollte, war ihr zwar nicht klar, aber in der Zwischenzeit waren die Diskussionen mit Dr. Allen sicher hilfreich. Immerhin rüttelte er sie gelegentlich auf und brachte sie dazu, in dunkle Ecken zu schauen, die sie sonst mied.
    Als sie durch die sternenlose Nacht fuhr, ging ihr eine seiner Formulierungen im Kopf herum: seltsame Retter . Das war eine neue Idee. Sie gefiel ihr.

2
    J enny hatte sich daran gewöhnt, mit dem Lärm eines Sechzehnjährigen zu leben, und in gewisser Weise vermisste sie die Geräusche sogar, wenn Ross das Wochenende bei seinem Vater in Bristol verbrachte. Sie hätte Steve anrufen können, den unverbesserlichen Freigeist, den sie ihren »Gelegenheitsfreund« nannte, der sich aber seit fast vierzehn Tagen nicht mehr bei ihr gemeldet hatte. Dabei war er von den Kollegen des Architekturbüros, in dem er im Rahmen seines letzten Studienjahrs ein Praktikum absolvierte, dazu gezwungen worden, sich ein Telefon zuzulegen. Jenny hatte ihn dazu ermutigt, sein selbstauferlegtes Exil auf einem Bauernhof hinter dem Dorf Tintern zu verlassen, wo er zehn Jahre lang versucht hatte, seine Aussteigerfantasien auszuleben. Nun, da er zur Arbeit nach Bristol fuhr und seine Nächte am Zeichentisch verbrachte, sahen sie sich nur noch selten.
    Sie gestand es sich ungern ein, wenn sie sich einsam fühlte – der Ausbruch aus einer erstickenden Ehe und das Leben auf dem Land hatten eine Befreiung sein sollen –, aber als sie am frühen Montagmorgen die kurvige Straße durch die dichten, kahlen Wälder des Wye Valley entlangfuhr, war sie froh, bald von ihrer eigenen Gesellschaft erlöst zu werden. Eine ganz gewöhnliche Woche wartete auf sie: Todesfälle in Krankenhäusern und Straßenverkehr, Industrieunfälle, Selbstmorde. Sie zog einen gewissen Trost daraus, den schrecklichen Erlebnissen anderer Menschen mit professioneller Distanz zu begegnen. Die Arbeit als Coroner hatte ihr die Illusion von Kontrolle und Unsterblichkeit verliehen. Während Jenny Cooper, die zweiundvierzigjährige Frau, um ihren gesunden Verstand und ihre Nüchternheit fürchten musste, hatte Jenny Cooper, Coroner Ihrer Majestät, Gefallen an ihrem Beruf gefunden.
    Mit einem Kaffee in der einen Hand und der Aktentasche in der anderen stieß Jenny die Tür zum Empfang mit der Schulter auf. Ihr Büro bestand aus zwei Räumen, befand sich im Erdgeschoss einer Häuserreihe aus dem 18. Jahrhundert und lag in einer Seitenstraße, die von der Whiteladies Road abging. Während ihr Arbeitsbereich renoviert worden war, präsentierten sich die öffentlich zugänglichen Teile des Gebäudes unverändert schäbig, und unter dem fadenscheinigen Teppich knarrten die Dielen. Die Weigerung des Vermieters, den Wänden auch nur einen neuen Anstrich zu verpassen, ärgerte sie jedes Mal, wenn sie die Haustür öffnete. Ihre Assistentin Alison war mit dem Kompromiss hingegen zufrieden. Sie hatte ihr halbes Leben bei der Polizei gearbeitet und fühlte sich in bodenständigen Umgebungen wohl. Wurde zu viel Wert auf Äußerlichkeiten gelegt, erregte das nur ihr Misstrauen. Auf dem nierenförmigen Designertisch, an dem sie jetzt saß und die Papiere sichtete, die über das neue Computersystem eingetroffen waren, standen verschiedene Topfpflanzen. Der hochmoderne Bildschirm war mit erbaulichen Spruchkarten aus dem christlichen Buchladen dekoriert: Leuchte wie ein Licht in dieser Welt wurde von kindlichen Engeln eingerahmt.
    »Hallo, Alison.«
    »Guten Morgen, Mrs. Cooper. Fünfzehn Todesmeldungen übers Wochenende, tut mir leid.« Sie schob einen Stapel Papiere über den Schreibtisch. »Außerdem kommt in fünfMinuten eine Dame, die mit Ihnen sprechen möchte. Ich habe ihr gesagt, dass sie einen Termin machen soll, aber …«
    »Wer?«, unterbrach Jenny und ging im Geiste die Liste der hartnäckigen Verrückten durch, die sie in letzter Zeit hatte abwimmeln müssen.
    Alison sah auf ihren Notizblock. »Mrs. Amira Jamal.«
    »Nie gehört.« Jenny griff nach einer Mappe, die in ihrem Posteingangskorb lag, und blätterte in ihrem Inhalt. Es waren Polizeifotos von den gefrorenen Leichen im Kühltransporter. »Was will Mrs. Jamal?«
    »Das konnte ich
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