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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte
Autoren: M. R. Hall
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Ausbrüche. Sie glaubte zwar, den sensiblen Jungen hinter dieser Maske zu kennen, aber manchmal kamen ihr daran Zweifel. Nicht einmal die Menschen, die einem nahestanden, kannte man wirklich.
    »Was hat die Polizei mit den Informationen gemacht?«, fragte Jenny.
    »Sie haben nach Beweisen gesucht, aber keine gefunden. Dann haben sie behauptet, beide Jungen seien möglicherweise mit gefälschten Papieren ausgereist, nach Pakistan.«
    »Hat man die Passagierlisten überprüft? Es ist nicht leicht, unentdeckt das Land über einen Flughafen zu verlassen.«
    »Angeblich haben sie alles gecheckt, ja. Sie denken, dass sie auch über ein anderes europäisches Land oder über Afrika oder den Nahen Osten ausgereist sein könnten. Keine Ahnung.« Sämtliche Energie schien aus ihr gewichen zu sein. Sie wirkte noch kleiner und zerbrechlicher als zuvor.
    »Wie ist die Sache ausgegangen?«
    »Im Dezember 2002 haben wir einen Brief bekommen. Die Polizei teilte uns mit, dass sie alles Menschenmögliche getan habe. Man halte es für mehr als wahrscheinlich, dass die beiden mit einer islamistischen Gruppe ins Ausland gegangen seien. Das war alles. Mehr haben wir nicht gehört. Kein Wort mehr.«
    »Was war mit der Moschee und der halaqah ?«
    »Die Polizei sagte, die Moschee sei im August des Jahres geschlossen worden. Die halaqah wurde aufgelöst. Die Geheimdienste haben deren Aktivitäten wohl noch beobachtet, konnten aber über Nazim und Rafi nichts weiter herausfinden. Man hat versprochen, uns zu informieren, falls sich noch irgendetwas ergibt.«
    »Haben die Leute von den Geheimdiensten noch einmal Kontakt zu Ihnen aufgenommen?«
    Mrs. Jamal schüttelte den Kopf.
    »Sie haben Rechtsanwälte erwähnt …«
    »Ja. Ich wollte, dass sie Fragen stellen, dass sie mit den Geheimdiensten und der Polizei sprechen, aber das Einzige, was sie getan haben, war, sich von mir bezahlen zu lassen. Alles blieb an mir hängen. Unter anderem habe ich in Erfahrung gebracht, dass man eine vermisste Person nach sieben Jahren für tot erklären lassen kann.« Sie schaute Jenny an. »Außerdem habe ich gelesen, dass der Coroner untersuchen muss, wie eine Person gestorben ist. Die Adresse seines Vaters, wo Nazim offiziell gemeldet war, liegt in Ihrem Zuständigkeitsbereich, deshalb bin ich hier.«
    Von dem Moment an, da sie die Verfügung gesehen hatte, war Jenny davon ausgegangen, dass Mrs. Jamal sie umdie Einleitung einer gerichtlichen Untersuchung bitten würde. Das aber warf eine Reihe von Problemen auf, nicht zuletzt deshalb, weil es keine Leiche gab und der Tod nicht als sicher galt. Unter diesen Bedingungen würde sie laut Abschnitt 15 des Coroner’s Act die Genehmigung des Innenministeriums einholen müssen, und die würde ihr nur erteilt werden, wenn die Eröffnung des Verfahrens im öffentlichen Interesse lag. Diese Entscheidung wiederum war mindestens ebenso sehr eine politische wie eine rechtliche. Und selbst wenn sie diese Hürde nehmen sollte, würde es nicht leicht sein, so viele Jahre nach dem Vorfall unwillige Polizisten und Funktionäre dazu zu bringen, die Akten zu entstauben und all das an Informationen herauszurücken, was nicht als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit eingeschätzt wurde. So weitreichend Jennys Befugnisse als Coroner auch waren, in diesem Fall würde sie es mit der mächtigen Staatsmaschinerie zu tun bekommen.
    »Mrs. Jamal«, sagte Jenny, ihr Tonfall eine Mischung aus Umsicht und Interesse, »ich werde mir den Fall Ihres Sohnes gerne anschauen, aber vorerst kann ich nicht mehr tun, als eine Anfrage an das Innenministerium …«
    »Ich weiß. Das hat mir schon der Richter gesagt.«
    »Dann wissen Sie vermutlich auch, dass die Chancen, entsprechende Ermittlungen einleiten zu dürfen, eher gering sind. Fast nicht existent. Ein derartiges Verfahren ist äußerst unüblich in einem Fall, in dem es keinerlei Beweise für den Tod der Person gibt.«
    Mrs. Jamal schüttelte den Kopf, ihre Miene verhärtete sich. »Was wollen Sie mir damit sagen? Dass ich nach all den Kämpfen einfach aufgeben soll?«
    Wäre sie ehrlich gewesen, hätte Jenny ihr gesagt, dass es nach einem Zeitraum von sieben Jahren und in Ermanglung einer Leiche das Beste wäre, die gerichtliche Verfügung alsletzten Beweis für Nazims Tod anzusehen, sich eine Zeit der Trauer zu gönnen und dann das eigene Leben weiterzuleben. Sie würde Mrs. Jamal sagen, dass ihrem Glück vor allem die besessene Beschäftigung mit dem Schicksal ihres Sohnes im Weg stand
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