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0769 - Das Kollektiv

0769 - Das Kollektiv

Titel: 0769 - Das Kollektiv
Autoren: Dario Vandis
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Es war elf Uhr Vormittags und die Sonne brannte bereits heiß vom Himmel, als Ela Murangira sich auf den Weg machte. Es war ein weiter und beschwerlicher Weg bis auf den Berg im Süden des Dorfes, aber nichts hätte Ela davon abhalten können, ihn zurückzulegen. So wie jeden Tag.
    Sie keuchte, während ihre nackten Fußsohlen über die trockene Erde schlurften. Rechts und links des Weges wucherte Unkraut, und weiter oben, wo die Felder endeten, waren Weg und Wildnis kaum noch voneinander zu unterscheiden.
    Vielleicht war es dieser Umstand, der Ela damals das Leben gerettet hatte, als sie sich vor den Mördern ihrer Familie versteckte. Sie hatten sie im Dorf gesucht und in der näheren Umgebung. Auf die Idee, auf den Berg zu steigen, waren sie nicht gekommen.
    Je weiter die Zeit voranschritt, desto müder wurde Ela. Es war jene Form von Müdigkeit, die nicht aus körperlicher Erschöpfung rührte, sondern die Menschen befiel, die sich am Ende ihres Weges glaubten. Alte Menschen, die schwach geworden waren oder einsam und die sich nichts weiter wünschten als einen sanften Tod.
    Aber Ela war nicht alt. Sie war achtundzwanzig, was selbst in Ruanda noch kein Alter bedeutete, obwohl die Zeit hier doch rascher zu vergehen schien als anderswo.
    Ihre Familie war glücklich gewesen, und das hatte den Nachbarn nicht gefallen. Ela gehörte wie ihr Mann und ihre drei Kinder den Tutsi an, einer Minderheit, die in den vergangenen Jahrzehnten selbst unter der deutschen und belgischen Kolonialherrschaft oft besser gestellt gewesen waren, als die Hutu, die den Großteil der Bevölkerung bildeten.
    Als die Kolonialherrschaft endete, brachen die Konflikte aus, die die fremden Herrscher nicht beseitigt, sondern nur zu ihrem eigenen Nutzen unterdrückt hatten. Vor fast zehn Jahren war das Pulverfass explodiert, dessen Lunte bis dahin nur leise geschwelt und sich hin und wieder an einsamen Punkten außerhalb der Städte entzündet hatte.
    Angefächert von Rassisten, setzte der Flächenbrand ein, brach sich die Unmut Bahn, und Menschen - Nachbarn, mit denen Ela Murangira noch am Vorabend zusammengesessen hatten - zogen brandschatzend und mordend durch die Straßen.
    Sie flüchtete und verfolgte aus der Ferne, wie ihr Mann und ihre Kinder starben, weil sie ahnungslos nach Hause zurückgekehrt waren, wo der Tod bereits auf alle vier gewartet hatte.
    Was an diesem Tag geschah veränderte Ela für immer. Obwohl sie Hunderte Meter vom Geschehen entfernt war, gelang es den Mördern, auch sie zu töten und jegliche Freude in ihrem Herzen zu zerstören.
    Schwer atmend erreichte sie den nackten Felsen an der Spitze des Berges, an dessen Fuß ein glatter brauner Stein lag, kaum einen Fußbreit im Durchmesser und halb in der von Unkraut bewachsenen Erde vergraben. Dieser Stein war alles, was Ela noch besaß.
    Sie hatte vier Kreuze in ihn geritzt. Drei für ihre Kinder, eines für ihren Mann. Seither kehrte sie jeden Tag an diesen Ort zurück, weil sie die Einzige im Dorf war, die nicht vergessen wollte.
    Viele Tutsi waren geflohen und hatten sich ihrerseits zusammengerottet. Drei Monate dauerte der Völkermord, den der Westen mit distanziertem Interesse verfolgte. In Ruanda gab es nichts zu holen außer ein paar Leichenkränzen für die Blauhelme, die zu Beginn dort stationiert gewesen waren.
    Ela kniete vor dem Stein und hörte das Lachen ihrer Kinder. Sie hielt die Augen geschlossen und sah ihre Gesichter vor sich.
    Sie hatte gelernt, mit der Trauer zu leben, deshalb war der Schmerz, der ihr anfangs fast die Brust zerrissen hatte, einem Gefühl der Taubheit gewichen. Der Weg hierher war ein Ritual geworden, um sich daran zu erinnern, dass jeder Atemzug auf dieser Welt Schicksal war.
    Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als sie ein Rascheln an der Buschgrenze vernahm.
    Erstaunt riss sie die Augen auf. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie die Blumen gar nicht bemerkt hatte, die hinter dem Felsen hervor lugten und mit ihren strahlenden Farben einen Kontrast zum blassgrünen Unkraut boten, wie er größer nicht hätte sein können.
    Wie kamen diese seltsamen Blumen hierher?
    Ela fühlte, wie ihr Herz von dieser Schönheit angerührt wurde. Ein Gefühl, das sie schon verloren geglaubt hatte.
    Sie stand auf und näherte sich den Blumen. Die Stängel reichten ihr fast bis an die Brust. Blätter und Kelche schimmerten in allen Regenbogenfarben. Es war eine ganze Kolonie, die hier am Fuß des Berges wuchs, und Ela hätte schwören können, dass sie
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