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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage
Autoren: Harry Bingham
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Allison Street macht nicht viel her. Billige Wohnblöcke aus den Sechzigern, die aussehen, als wären sie aus Karton gebaut. Zumindest sehen sie aus wie kartonfarbene Schachteln. Auch die Wände sind so dünn wie Karton und halten auch genauso gut die Feuchtigkeit ab. Außer einem Jungen, der wieder und wieder einen roten Ball gegen eine fensterlose Wand schleudert, ist niemand zu sehen. Er blickt kurz auf, dann macht er weiter.
    Das Grundstück ist immer noch von schwarzgelbem Polizeiabsperrband umgeben, obwohl die Jungs von der Spurensicherung inzwischen fertig sein müssten. Ich ducke mich unter dem Band durch und drücke auf die Türklingel.
    Erst Stille, dann Schritte. Ich habe Glück – ein Mann von der Spurensicherung mit kurzen roten Haaren und rosa Ohren öffnet mir die Tür.
    Ich zeige ihm meinen Ausweis. » Ich war gerade in der Gegend«, sage ich. » Da dachte ich, ich sehe mich mal um.«
    Der Mann zuckt mit den Schultern. » Noch fünf Minuten, okay? Ich nehme nur noch ein paar Textilfaserproben, dann bin ich weg.«
    Er geht wieder in den ersten Stock und lässt mich allein im Erdgeschoss stehen. Ich gehe ins Wohnzimmer, in dem April und Janet gestorben sind. Vor dem Vorderfenster hängt ein roter Vorhang – genau wie an dem Tag, an dem die Morde geschahen. Außerdem wurden inzwischen große Baustrahler hier und in der Küche aufgestellt. Ihr Halogenlicht ist so grell, dass alles unwirklich erscheint. Als wäre ich auf einem Filmset und nicht in einem Haus.
    Ein paar Sachen wurden als Beweisstücke abtransportiert. Andere Gegenstände wurden gesichtet, inventarisiert und vernichtet. Und wieder andere Dinge wurden an Ort und Stelle belassen und mit einem Etikett versehen. Leider kenne ich mich mit so aufwändigen Beweisaufnahmen nicht gut genug aus, um die Logik hinter diesen Vorgängen zu erkennen.
    Ich gehe durch den Raum und tue nichts weiter, als herauszufinden, ob ich irgendetwas spüre. Nichts. Na ja, zumindest spüre ich, dass mir dieser Ort nicht gefällt. Mir gefallen weder der rote Teppich mit dem komplizierten Muster, das hässliche Sofa, die Schmutzflecken an der Wand noch der Geruch nach Möbeldiscounter und verstopften Abflüssen. Irgendwie bin ich hier fehl am Platz.
    Aufgrund der Fotos vom Tatort kann ich die Position bestimmen, an der die Leichen gefunden wurden. An der Stelle, an der April gelegen hat, ist ein großer eingetrockneter Blutfleck auf dem Teppich. Sieht allerdings nicht nach Blut aus. Eher nach rotem Curry.
    Ich gehe in die Hocke und betaste den Boden, auf dem April ihren letzten Atemzug getan hat, dann gehe ich zu der Stelle hinüber, wo Janet gestorben ist.
    Manchmal will man ein Gefühl für den Tatort bekommen. Sich mit den Toten vertraut machen, deren Anwesenheit noch immer im Raum schwebt. Aber ich nehme gar nichts wahr. Nur den Kunstfaserteppich und einen schwachen Geruch. Die Halogenscheinwerfer tauchen alles in unwirkliches Licht. Unter dem Vorderfenster steht eine Holzkiste, an der Arme und eine Rückenlehne angebracht sind, damit man sich draufsetzen kann.
    Der Mann von der Spurensicherung kommt die Treppe runter. Er nimmt zwei Stufen auf einmal und platzt ins Wohnzimmer.
    » Alles klar?«, fragt er.
    » Diese Bank da.« Ich deute auf die Fensterbank. » Waren da Sitzkissen drauf?«
    Der Mann zeigt auf ein schmutziges schwarzkariertes Sitzkissen, das ungefähr einen Meter vom Sofa entfernt an der Wand lehnt. Das Kissen ist genauso groß wie die Bank.
    » Waren hier irgendwo Zeichnungen? Kinderzeichnungen von April vielleicht?«
    » Ein ganzer Stapel.« Er deutet auf die Rückenlehne der Fensterbank. » Hauptsächlich Blumenmotive.«
    » Aha.«
    Ich hebe den roten Vorhang an und starre auf die Straße hinaus. Von hier aus kann man die halbe Allison Street und einen Parkplatz dahinter überblicken. Ich sitze auf der Fensterbank und stelle mir vor, ich wäre April.
    Der Mann steht neben mir und atmet hörbar durch die Nase. Er will, dass ich wieder verschwinde, und da es eigentlich keinen Grund für meine Anwesenheit gibt, tue ich ihm den Gefallen.
    Ich gehe aus dem zu hellen Wohnzimmer in den zu dunklen Flur, dann hinaus auf die warme, sonnenbeschienene Straße. Jetzt kommt mir alles noch viel seltsamer vor. Der Junge mit dem roten Ball ist nirgendwo zu sehen. Das Haus und die Straße, alles wirkt völlig normal, und doch wurden hier, in der Nummer 86, April Mancini – definitiv – und ihre Mutter – höchstwahrscheinlich – ermordet. Und das verändert alles.
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