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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage
Autoren: Harry Bingham
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Haaresbreite eine letzte, tückische Kurve und brause mit etwa fünfzig Sachen, wo Schrittgeschwindigkeit angebracht wäre, auf den Kiesparkplatz vor dem Anwesen. Ich bremse so stark, dass ich auf dem Schotter ins Schleudern gerate, und schaffe es gerade so, den Motor nicht abzuwürgen. Dieses Manöver hat eine große Wolke ockerfarbenen Staub aufgewirbelt. Stummer Applaus für Fi Griffiths, die große Rallyefahrerin.
    Dann brauche ich ein paar Sekunden, um mich wieder zu sammeln. Einatmen, ausatmen, auf jeden Atemzug konzentrieren. Mein Herz schlägt viel zu schnell, doch zumindest kann ich es spüren. Solche Sachen sollten mich eigentlich nicht so furchtbar aufregen, sie tun es aber trotzdem. Es sollte keine Armut und keinen Hunger geben, es gibt sie aber trotzdem. Ich warte ab, bis ich einigermaßen die Fassung wiedererlangt habe, dann warte ich noch weitere zwanzig Sekunden.
    Schließlich steige ich aus und knalle die Autotür zu, schließe allerdings nicht ab. Auf der Eingangstreppe zum Anwesen steht eine Frau – Miss Edelstahl, nehme ich an – und beobachtet mich. Sieht nicht so aus, als könnte sie mich besonders gut leiden.
    » DC Griffiths?«
    Aha, nur noch Detective Constable. Miss Edelstahl scheint nicht unbedingt vertraut mit den Dienstgraden der britischen Polizei, also vermute ich, dass sie im Internet recherchiert hat. In diesem Fall weiß sie auch, dass ich in der Rangordnung ziemlich weit unten stehe.
    » Tut mir leid, ich bin zu spät. Der Verkehr.« Keine Ahnung, ob sie meine kleine Rallye durch die Einfahrt mitbekommen hat. Ich entschuldige mich nicht dafür, und sie erwähnt den Vorfall nicht weiter.
    Ein bescheidenes Heim. Zehn bis zwölf Schlafzimmer, makellos gepflegter Garten, eine Hecke aus Leylandzypressen, die wohl einen Tennisplatz abschirmt. Weiter entfernt stehen eine Reihe kleinerer Häuschen und ein Gebäudekomplex – wahrscheinlich die Stallungen oder der Fitnessbereich. Der Usk fließt malerisch über einige Felsen am Ende eines langen Rasenstücks. Wir sind nur wenige Meilen von Cwmbran und den alten Kohleminen entfernt, die die Hügellandschaft verschandeln. Wenn man hier so steht und dem Usk zusieht, wie er im Sonnenlicht seine Kunststückchen vollführt, denkt man, dass man eine Million Meilen von Crumlin, Abercarn, Cwmcarn, Pontywaun und den anderen hässlichen Orten entfernt ist. Aber genau darum geht es hier. Deshalb das viele Geld.
    Miss Edelstahl führt mich durch den Vordereingang. Im Anwesen selbst ist alles wie erwartet: Die Innenarchitektur ist konsequent durchgeplant, jede persönliche Note wurde so gründlich entfernt wie die viktorianischen Blindböden. Unsere Absätze klackern über den Sandstein der Empfangshalle, vorbei an Vasen mit frischen Blumen und Fotos von Rennpferden in die Küche, einem riesigen Anbau des Hauptgebäudes. Maßgeschreinerte elfenbeinfarbene Küchenmöbel. Ein Standherd in Wedgwood-Blau. Noch mehr Blumen. Jalousien, Sofas, Sonnenlicht.
    » Mrs Rattigan ist kurzfristig etwas dazwischengekommen. Wir hatten Sie um halb zwölf erwartet.«
    » Tut mir leid, meine Schuld. Aber ich kann warten.«
    Das ist ehrlich gemeint. Es tut mir wirklich leid. Und ich kann tatsächlich warten. Sehr erwachsen von mir netter Person. Allerdings bin ich nur nett, weil ich noch den Schrecken von gerade eben verarbeiten muss und keinen weiteren Ärger gebrauchen kann. Im Augenblick reicht es mir völlig, hier in der Küche zu sitzen und meinem Herzschlag zu lauschen.
    Miss Edelstahl – die mir ihren richtigen Namen genannt hat, als wir uns vor dem Anwesen die Hand gaben – hantiert an einem Teekessel herum. Ich versuche vergeblich, mich an ihren Namen zu erinnern. Ich sitze am Tisch und hole meinen Notizblock heraus. Einen Moment lang weiß ich nicht einmal mehr, was ich hier eigentlich will. Miss Edelstahl stellt ein Kaffeeservice so vorsichtig vor mir ab, als wäre es ein Kunstobjekt, in das die Herrschaften erst kürzlich eine größere Summe investiert haben.
    Mir fällt nichts ein, was ich sagen könnte, also schweige ich und zwinkere nur.
    » Ich werde nachsehen, ob Mrs Rattigan Sie jetzt empfangen kann.«
    Ich nicke. Sie verlässt mit klickenden Absätzen die Küche und durchquert die Empfangshalle. Langsam beruhige ich mich. Irgendwo tickt eine Uhr. Das Ofenrohr des Standherds rauscht leise und gemütlich wie ein weit entfernter Fluss. Ein paar Minuten vergehen, angenehm müßige Minuten, dann betritt eine Frau mit Miss Edelstahl an ihrer Seite die
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