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Totenfrau

Totenfrau

Titel: Totenfrau
Autoren: Bernhard Aichner
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hören?
    – Warum der Keller?
    – Es ist einfach passiert, Blum.
    – Passiert?
    – Es war Zufall.
    – Zufall.
    – Es gab einen Anruf der Nachbarn, ich war für eine Überwachung in Kitzbühel, ich wollte den uniformierten Kollegen Arbeit abnehmen und bin hingefahren.
    – Wann?
    – Vor viereinhalb Jahren.
    – Du warst allein?
    – Es war mitten in der Nacht, ich war ohnehin wach und dachte mir, das schaue ich mir an.
    – Was?
    – Die Nachbarn hatten Schreie gehört.
    – Und?
    – Ich habe geklingelt, geklopft, dann bin ich hineingestiegen. Ein Kellerfenster stand offen.
    – Weiter.
    – Sie haben sie vergewaltigt. Zu viert. Männer mit Masken und heruntergelassenen Hosen. Sie hatten versehentlich das Fenster offen gelassen, das Mädchen hat so laut geschrien, dass man es bis auf die Straße gehört hat.
    – Weiter. Die Zeit läuft.
    – Sie hat nicht aufgehört zu schreien, ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich musste die Männer in Schach halten, ich war völlig überfordert. Es war eine Ausnahmesituation, Blum.
    – Was hast du getan?
    – Ich habe ihr mit der Waffe auf den Kopf geschlagen.
    – Warum?
    – Ich hatte keine andere Wahl.
    – Du hast sie geschlagen, anstatt ihr zu helfen?
    – Ich wollte, dass sie still ist, ich musste die Situation unter Kontrolle bringen, ich hatte Angst, dass die vier Männer auf mich losgehen würden. Sie hatten Masken auf, ich hatte Angst, Blum.
    – Du hattest eine Waffe.
    – Ich war in Panik.
    – Wer war es? Dunja oder Ilena?
    – Ilena.
    – Du hast ihr nicht geholfen.
    – Nein, das habe ich nicht.
    – Warum nicht?
    – Ich weiß es nicht.
    Blum hört ihm zu. Was er sagt. Sie hört, wie er versucht, es ihr zu erklären, wie er versucht, sich zu rechtfertigen. Seine Entscheidung, zu bleiben, keine Verstärkung zu rufen, sich mit den Männern zu unterhalten. Oben im Restaurant, ohne Masken an einem Tisch, während Ilena bewusstlos und geschunden unten lag. So wie die anderen eingesperrt in Käfigen. Verstaut, betäubt, verletzt und hilflos. Massimo ließ sie einfach zurück, schloss Türen und Fenster und kehrte wieder zurück in die Welt da draußen. Er hat die Augen zugemacht und sich verführen lassen. Er hat das Schlaraffenland gesehen, einen geheimen Ort, an dem alles erlaubt war, an dem niemand ihm sagte, was er tun musste, was er lassen sollte. Kein Gejammer darüber, dass Gott sie übersehen habe, dass ihr Leben ohne ein Kind sinnlos sei. Keine Zurückweisungen mehr. Massimo. Er spricht über Ute. Dass er sie nicht berühren durfte, dass sie ihm das Gefühl gab, er sei schuld. Ein Versager, kein Mann, nicht fähig, ein Kind zu zeugen. Jeden Tag sagte sie es ihm, sie hörte nicht auf damit. Ihn zu demütigen, sein Leben unerträglich zu machen. Ute. Immer. Da war nichts Schönes mehr. Nur aus diesem Grund ist es passiert, sagt er. Nur deshalb hat er die falsche Entscheidung getroffen in diesem Moment. Damals in diesem Keller.
    Massimo. Wie er daliegt in seinem Fichtensarg. Beinahe scheint es so, als würde er weinen. Wie sein Mund auf- und zugeht und wie Blum ihn anschaut. Ein guter Freund, liebenswert, hilfsbereit, freundlich. So wie er immer gewesen ist. Seine Stimme ist ruhig, fast sanftmütig wirkt er, niemals würde man ihm zutrauen, was er getan hat. Dass er einfach geblieben ist damals. Dass er sich eine bunte Maske gekauft hat und zurückgekommen ist. Dass er sich mit dem Pfarrer arrangiert hat, mit dem Koch. Er hatte sie alle in der Hand. Den Jäger, den Fotografen. Sie haben getan, was er wollte, ohne Gegenwehr akzeptierten sie den neuen Mitspieler in ihrer Runde. Aus vier sind fünf geworden. Nur weil sie vergessen hatten, ein Fenster zu schließen. Nur weil Ilena so laut geschrien hat. Jahrelang. Bis sie tot war.
    Seine treuen Augen. Sie wollen sich festhalten an ihr, sich an ihr hochziehen, sich aus dem Sarg befreien. Kleine, traurige Augen, unscheinbar wie alles andere sonst an ihm. Kurz ist das Monster ruhig, kurz kommt das Gute zurück, einen kleinen Moment tut er ihr sogar leid. Dass er so ist. Dass er das alles tun musste. Kurz nur. Eine Sekunde lang, zwei. Es ist die Erinnerung an früher, die heile Welt, an die sie sich zwischen seinen Worten erinnern will. Doch davon ist nichts mehr übrig, alles ist eingestürzt, zusammengebrochen, kaputt. Hinter diesen Augen schlummert ein wildes Tier. Es geht hin und her, scharrt mit den Hufen im Sand, ist bereit zuzubeißen. In ihren Hals, ohne zu zögern. Ein Biss nur, und sie wäre tot,
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