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Totenfeuer

Totenfeuer

Titel: Totenfeuer
Autoren: Susanne Mischke
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anscheinend doch mehr Nerven gekostet, als er zunächst dachte. »Ich bin erledigt, ich brauche eine Dusche. Und Urlaub!«
    Die Räume des Dezernats sind ausgestorben, alle sind schon gegangen. Jule fühlt sich hier dennoch ganz wohl. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch. Gegenüber, an Fernandos Platz, hängt die Hannover-96-Fahne schlaff von der Wand und spiegelt damit den Zustand der Mannschaft exakt wider. Ob er sie wohl abnimmt, wenn sie absteigen?
    Sie nimmt sich das Notizbuch vor, zu dessen Studium sie den ganzen Tag noch nicht gekommen ist. Natürlich könnte sie Roswithas Aufzeichnungen auch zu Hause auf dem Sofa lesen, das wäre bequemer. Es ist idiotisch, erkennt sie. Leonard war gerade mal einen Tag bei mir, und ich tue so, als sei eine leere Wohnung etwas Neues für mich. Habe ich es nicht sogar genossen, bevor ich ihn kannte?
    Sie verbannt die Gedanken an ihn aus ihrem Kopf und schlägt das Buch auf. Anna hatte recht, die Schrift ist nicht gut zu lesen, und stellenweise ist die Tinte schon sehr blass. Aber Jule, die sich seit ihrer Jugend für Geschichte interessiert, ist hartnäckig, und nach einer Weile klappt es ganz gut. Seite für Seite arbeitet sie sich voran. Es sind die typischen Tagebucheinträge eines verliebten jungen Mädchens. Fast alle handeln von »ihm«. Wer gemeint ist, ist sehr schnell klar: Heiner Felk. Die ersten Einträge stammen aus dem Jahr 1937 und schildern das Bemühen des Mädchens, die freundschaftliche Aufmerksamkeit, die ihr Angebeteter ihr zukommen lässt, anders zu interpretieren. Ganz klar: Sie ist verliebt in ihn, während er in ihr nur die Sandkastenfreundin sieht. Roswitha ist fast täglich auf dem Gut, wenn sie nicht gerade Einsätze beim Bund Deutscher Mädel hat. Sie bringt die Post dorthin, sie hilft bei der Heuernte, sie mistet Ställe aus, striegelt die Pferde, darf wohl auch mal eines reiten, aber darauf kommt es ihr gar nicht an, es sei denn, Heiner begleitet sie. Nach diesen seltenen Ausritten kennen ihre Freude und ihre Schwärmerei kaum noch Grenzen. Einmal kommt es wohl zu einem flüchtigen Kuss, danach sieht sich Roswitha schon mit ihm vor dem Traualtar stehen. Dann aber, im Mai 1939, tritt eine Veränderung ein, die ihre Pläne in Gefahr bringt. Die Sommerfelds ziehen auf das Gut. Ein paar Tage genügen, und Roswitha begreift, dass Gefahr droht.
    20.6.1939
    Dieses verdammte Judenpack, oh, wie ich sie hasse. Und ganz besonders diese Lydia. Sieht er denn nicht, was das für eine eitle Gans ist? Den ganzen Tag sitzt sie da und malt die Pferde, und Heiner findet das auch noch schön! Dabei hat sie keine Ahnung von Pferden, die kann nicht mal eine Mistgabel halten. Kommt sich aber ganz famos vor, das dürre Luder. Stolziert herum wie eine Gräfin in ihren Stadtkleidern. Mich hat sie hintenherum ein Landei genannt. Das werde ich ihr heimzahlen!
    In dem Ton geht es eine ganze Weile. Als Roswitha beobachtet, wie Heiner und Lydia sich küssen, schäumt sie vor Wut. Die Tiraden, die sie von da an ihrem Tagebuch anvertraut, sind eine wüste Mischung aus den Hassgefühlen eines verschmähten, eifersüchtigen Teenagers und antisemitischer Nazipropaganda, welche das Mädchen aufgesogen haben muss wie eine Zecke, die endlich ihr Wirtstier gefunden hat.
    15.11.1939
    Dauernd faseln sie von Auswanderung. Wenn sie es doch endlich täten. Aber diese Schmarotzer scheuchen auf dem Gut die Leute herum und spielen sich auf, während unsere Soldaten für den Führer und unser Vaterland kämpfen. Reicht es ihnen nicht, dass man diesen Vaterlandsverrätern letzte Woche die Häuser angezündet hat? Worauf warten sie denn noch? Max war dabei, als die Synagoge in der Bergstraße brannte. Dieses Freudenfeuer hätte ich auch gerne gesehen. Endlich hat das Pack den gerechten Volkszorn zu spüren bekommen. Sie soll endlich verschwinden, diese jüdische Hexe. Ein Ozean ist gerade mal ausreichend als Abstand zwischen dem Miststück und meinem Heiner. Und ich darf nicht mal was gegen sie oder die Juden allgemein sagen, sofort wird er böse. Ich bete jede Nacht, dass sie endlich geht!
    Max, der ab und zu in ihren Einträgen auftaucht, ist Roswithas älterer Cousin. Er lebt mit seiner Familie in der Südstadt, und wenn Jule es richtig deutet, ist Max Mitglied der SS .
    2. September 1941
    Es ist nicht zu fassen, diese Madame trägt keinen Judenstern, obwohl das seit gestern Vorschrift ist. Ihre Eltern haben im Haus alle Bilder vom Führer abgenommen! Aber es gibt einen Lichtblick. Lange wird
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