Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben
Autoren: Annette Mingels
Vom Netzwerk:
Winterschlaf?, fragt Tristan. Sie gehen weiter und dann sehen sie plötzlich das Riesenrad. Die gelben und roten Gondeln, die im letzten Sonnenlicht schimmernden Speichen. Direkt daneben ein Gerät, das wie eine Windmühle aussieht. Die fünf Flügel dicht mit Menschen besetzt. Die Flügel gehen auf und nieder, drehen sich um sich selbst. Köpfe, die nach unten hängen. Schreie, die sie im Näherkommen hören. Ängstlich und euphorisch.
    Komm, sagt Tristan, lass uns schauen gehen.
    Am Wegrand stehen etliche Autos. Andere Autos kommen im Schritttempo gefahren. Wenden, als sie keinen Platz finden. Parken dann fünfzig Meter entfernt auf einer gemähten Wiese. Ein Jugendlicher in grellgelber Weste weist die Parkplätze zu.
    Tristan hat Annes Arm genommen und zieht sie mit sich. Auf dem Jahrmarkt lässt er sie los, doch manchmal spürt sie seine Hand in ihrem Rücken, als sie durch die Menschen gehen. Kinder kommen ihnen entgegen. Eis und Lebkuchen essend. Zuckerwatte in luftigen rosafarbenen Wolken.
    Wusstest du, dass ein Zahnarzt die Zuckerwatte erfunden hat?, fragt Tristan.
    Wirklich? Anne lacht. Wie vorausschauend von ihm.
    Sie kaufen zwei Lose bei einem Mann, der bis zu den Knien in einem bauchigen Erdbeerkostüm steckt. Keines der Lose gewinnt. Vor einem mit englischen Flaggen und einem Wachsoldaten bemalten Stand bleiben sie stehen. An der hinteren Wand sind Luftballons angebracht. Drei Pfeile pro Versuch. Und für den Sieger ein Stofftier: Gelbe Kugelfische, orange-weiß-schwarze Clownfische. Springende Delfine. Zwei riesige Haie.
    Ich hol dir einen Hai, verspricht Tristan. Für deine kleine Tochter. Wie alt ist sie noch mal?
    Dreizehn, sagt Anne. Sie hat automatisch geantwortet. Jetzt sagt sie noch einmal: Yola ist dreizehn.
    Da geht’s ja gerade noch, sagt Tristan.
    Der erste Pfeil prallt an einem Ballon ab und fällt zu Boden. Mit den beiden nächsten trifft er. So einer oder so einer, sagt der Mann hinter der Theke und zeigt gelangweilt auf die kleineren Fische. Anne sagt, einen Clownfisch, bitte, und der Mann nimmt einen der Fische von seinem Haken und reicht ihn ihr.
    Danke, sagt Anne. Und an Tristan gewandt: Ist sogar schöner als ein Hai.
    Sie gehen an einer Schiffsschaukel vorbei und an einer Riesenkrake. Vor der Achterbahn bleibt Tristan stehen. Komm, sagt er. Wir fahren eine Runde.
    Nein, sagt Anne, nie im Leben.
    Sie hat schon Angst, wenn sie nur davorsteht. Die blassen Gesichter der Menschen, die im Sturzflug auf sie zu sausen. Die zu Schreien geöffneten Münder. Die Achterbahn ist nicht sehr hoch. Trotzdem.
    Ach, komm schon, sagt Tristan.
    Ich bin noch nie mit so was gefahren, sagt Anne.
    Na, umso besser, sagt Tristan. Dann probieren wir heute etwas Neues aus.
    Und was ist das Neue für dich?, fragt sie.
    Das, sagt Tristan, darfst du bestimmen. Jetzt komm.
    Er hat wieder ihre Hand genommen, und sie lässt sich zu der Schlange ziehen, die vor dem Kassenhäuschen ansteht. Während sie warten, schaut Anne nicht zur Achterbahn. Stattdessen beobachtet sie einen jungen Mann, der einen Rollstuhl schiebt. Das Mädchen darin ist an Handgelenken, Bauch und Beinen mit Lederriemen angebunden, der Kopf wird von einer Halterung fixiert. Sie ist vielleicht neun Jahre alt, kaum älter. Ihre Augen wandern umher. Manchmal zuckt es in ihrem Gesicht, als versuchte sie zu lächeln. Oder zu weinen. Wo sie entlangkommen, teilt sich die Menge.
    Schließlich sind Tristan und Anne an der Reihe. Tristan bezahlt und die Kassiererin mit den runden Puppenaugen und dem fahlen Teint schiebt die beiden Tickets unter dem Plastikfenster hindurch. Sie setzen sich in einen der Wagen. Anne schließt den Gurt, zieht noch einmal daran. Rüttelt an den Plastikbügeln, die vor ihrem Oberkörper ineinandergreifen.
    Alles fest?, fragt Tristan.
    Ich glaube schon.
    Na dann. Tristan nickt ihr zu. Um ehrlich zu sein, sagt er, bin ich selbst ein bisschen ängstlich. Er sieht sie so nachdenklich an, als sei ihm etwas entfallen. Vierzehn Jahre, sagt er schließlich. So lange ist es her, dass ich das letzte Mal mit so einem Ding gefahren bin. Jon war damals fünf und bestand darauf. Das hat ihn kuriert, danach wollte er nie mehr fahren. Tristan lacht leise.
    Hast du noch mehr Kinder?, fragt Anne.
    Seine Antwort geht im Geheul der Sirene unter, das sogleich von lauter Rockmusik abgelöst wird. Der Wagen ruckt, dann fahren sie los. Anne sieht noch einmal zu Tristan hin. Er hält sich mit beiden Händen am Bügel fest, hat den Kopf in den Nacken
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher