Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben
Autoren: Annette Mingels
Vom Netzwerk:
Anne sagt: Nein, das ist es nicht.
    Als sie hört, wie die Haustür geschlossen wird, steht sie auf. Stellt sich unter die Dusche, bis die Haut ganz rot und heiß ist, dann trocknet sie sich ab, ohne in den Spiegel zu sehen.
    Die Idee ist ihr plötzlich gekommen, eine Idee, die zugleich ein Entschluss war: Sie würde ihre Arbeit kündigen, heute noch, sie würde anrufen und sagen, dass sie nicht mehr komme.
    Wie meinst du das?, fragt Eva. Heute? Oder diese Woche?
    Nein, sagt Anne. Generell.
    Sie räuspert sich, ein Pochen im Hals, dreh um, denkt sie, jetzt geht es noch. Jetzt ist Eva noch überrascht, ein wenig belustigt vielleicht, aber nicht verärgert.
    Ich habe ja noch Urlaub gut, sagt Anne hilflos, und Eva sagt: Hör mal, Anne, was ist los?
    Nichts, sagt sie. Ich weiß nicht.
    Sie hört Eva ausatmen, stellt sich vor, wie sie die Augen aufreißt, Fassungslosigkeit signalisiert, Unverständnis, für die Kollegen.
    Nimm das mal so an, sagt Anne. Ich kündige.
    Dann legt sie auf, ohne Evas Antwort abzuwarten.
    Auf dem Tisch liegen einige Broschüren, dazwischen ein Briefbeschwerer, ein kleines, gusseisernes Nilpferd, das nutzlos und hübsch dasteht, mit dem Rücken zum Besucher. Irgendjemand hat sich die Mühe gemacht, das Zimmer einzurichten. Fast schon gemütlich, mit seinem blumenumrankten Teppich, der Federzeichnung an der Wand, über dem Holzschrank eine lange Reihe antiker Schlüssel, jeder an einem Nagel aufgehängt. Anne weiß nicht, ob der Mann, der ihr gegenübersitzt, dazu passt. Ob sie ihm die Schlüsselsammlung abnimmt. Die Blumen und das Nilpferd. Er ist jünger als sie, aber vielleicht täuscht sie sich auch. In letzter Zeit glaubt sie von den meisten Menschen, dass sie jünger seien als sie. Vielleicht kommt das daher, dass sie sich schwer fühlt. Schwere Beine, schwere Füße, die in keine schönen Schuhe mehr passen. Ein schwerer Körper, den sie mit sich herumträgt, pflichtschuldig, ohne jede Zuneigung. Nur ihr Kopf kommt ihr manchmal leicht vor, schwindelig, als würde er gleich davontaumeln und sie zurücklassen, orientierungslos wie der kopflose Reiter.
    Tristan, sagt er. Der Vater ein Wagner-Verehrer, darum die Namen der Kinder: Siegfried, Isolde, Tristan. Er lächelt, es hätte schlimmer kommen können: Lohengrin oder Parsifal. Sie kennen sich vom Sehen, Karen und sein Sohn gingen in dieselbe Klasse, Tristan erinnert sich an einen Elternabend, auf dem Anne mit der Mathematiklehrerin Streit bekam, einer rabiaten Oberstudienrätin. Worum es ging, hat er vergessen. Aber eindrücklich war es, sagt er, und dass er – natürlich – auf ihrer Seite war. Sie kann sich nicht erinnern. Nicht an den Streit, nicht an seinen Beistand. Nur die Lehrerin sieht sie vor sich. Ihre groteske Aufmachung. Streng und unmodern. Aber schrille Farben. Eine Demonstration ihrer Unangreifbarkeit.
    Also?, fragt Tristan, und Anne sagt: Ich muss mich neu orientieren, so sagt man doch, nicht wahr? Neu beginnen. Irgendwas. Alles. Sie lacht trocken. Zunächst einmal den Beruf.
    Tristan nickt, nimmt einen Block zur Hand, einen Stift. Schreibt ihren Namen oben auf das erste Blatt. Darunter das Datum.
    Damit zumindest bist du richtig hier, sagt er. Er klingt belustigt, auf eine freundliche Art, nicht spöttisch.
    Was sie gelernt hat. Was sie gemacht hat. Studiert, sagt sie, Geschichte. Als Lehrerin gearbeitet, aber nur kurz. Dann kamen die Kinder. Und irgendwann begann sie als Reiseführerin zu arbeiten. Fuhr die Touristen über die Insel, zeigte ihnen das, was sie aus ihren Reisebüchern kannten. Die hellen Felsen. Den Glockenturm und das Inselmuseum. Das Skelett des Pottwals. Die Ausstellung der Miniaturbilder, manche so klein, dass sie auf einen Hemdenknopf passen. Ganze Landschaften. Und später die Arbeit im Büro der Inselverwaltung. Keine Ausflüge mehr, dafür ein besseres Gehalt. Mehr Verantwortung. Mehr Langeweile. Sie sagt: Die Tage vergingen so langsam. Langsam und gleichzeitig viel zu schnell. Als würde mein Leben verrinnen. Ohne mich.
    Will sie das sagen? Ist es das? Sie verstummt und Tristan sagt: Einen Kaffee. Ich hole uns einen Kaffee, einverstanden? Als er wieder ins Zimmer kommt, hat sie sich gefangen. Lobt den Kaffee, zeigt auf die Schlüssel an der Wand. Hast du die gesammelt? Nein, sagt Tristan. Die stammen von meinem Vater. Er selbst sei kein Sammler. Verliere höchstens Sachen. Jeden Tag eine Kleinigkeit. Die Insel muss gesprenkelt sein von meinen Besitztümern. Er lacht. Anne fragt: Ist das gut oder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher