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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben
Autoren: Annette Mingels
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schlecht? Gut, sagt er nach einer Weile. Ich glaube, das ist gut.
    Und was willst du jetzt machen?, fragt er, als sie ihre leere Tasse auf den Tisch stellt.
    Sie sieht ihn an, fühlt sich kurz sehr jung. Keine Ahnung, sagt sie. Sie überlegt. Keinen Bürojob.
    Er zieht eine vertikale Linie in der Mitte des Blattes. Teilt es in zwei Hälften, eine gute und eine schlechte, denkt Anne. Wie sie es als Kind gemacht hat, wenn eine Entscheidung anstand. Plus, hatte sie über die eine Seite geschrieben, Minus über die andere. Bis zu ihrem Studium hatte sie es so gehalten, dann nicht mehr. Hätte es geholfen? Etwas geändert? Und wenn sie es heute noch mal tun würde, noch mal ihr Leben in eine Liste zwingen würde?
    Was sie will. Und was nicht. Er notiert es. Manchmal nimmt sie etwas zurück. Nein, sagt sie, das doch nicht. Sie überlegt. Wenn sie aufschaut, blickt sie in seine Augen. Grün, denkt sie, vielleicht auch braun. Sie ist zu weit entfernt, der Tisch zu groß. Falten, wenn er lacht. Vielleicht ist er doch nicht jünger als sie. In blondem Haar sieht man die grauen Strähnen erst, wenn man ganz nah herangeht. Sie lächelt und er lächelt auch. Wie Verschwörer, denkt sie kurz. Aber Verschwörer wogegen? Sie betrachtet den Vogel auf der Zeichnung hinter ihm an der Wand. Der breite ungeschützte Bauch, der schmale Schnabel. Dunkle Knopfaugen ohne Mitte. Der Ast, auf dem er sitzt, trägt Blüten, Kirsche, vielleicht Pflaume. Tristans Gesicht davor, als wäre es ein Teil der Illustration. Als wüchse ihm der Vogel aus dem Kopf und wachte über ihm. Seine Kopfgeburt, denkt Anne.
    Mehr weiß ich nicht, sagt sie irgendwann.
    Das war, sagt er, schon recht viel.
    Er steht auf, geht ins andere Zimmer, kommt mit einer Kopie der Liste zurück.
    Wir sollten drüber schlafen, sagt er. Komm doch morgen wieder. Machst du das?
    Ja, sagt sie, das mache ich.
    Als sie nach Hause kommt, hat David das Essen vorbereitet. Brot, Schinken, Schafskäse. Gurken. Tomaten.
    Tristan, sagt er, als sie zu Ende erzählt hat. Kenn ich nicht. Er schüttelt den Kopf. Ist er denn so traurig, wie man meinen sollte?
    Sie sagt: Ich glaube nicht. Iss nicht so schnell.
    Sie legt das Messer neben den Teller, die Hände in den Schoß.
    Lass uns einmal nicht schon die Gabel füllen, während wir noch kauen, schlägt sie vor. Lass uns das Essen in die Länge ziehen, was meinst du?
    Er sieht sie mit komischer Verzweiflung an. Und wenn ich Hunger habe?
    Dann erst recht, sagt sie.
    In der Nacht wacht sie auf, weil er sich an sie drängt. Sie schließt die Augen, irgendwann dreht sie sich zu ihm um. Streichelt sein Gesicht, seine Brust. Fährt hinab zu seinem Bauch, seinem Geschlecht. Sie beugt sich über ihn. Doch, sagt sie, als er sich sträubt. Es ist gut. Dann legt sie sich hin. Sein Kopf zwischen ihren Beinen. Kurz hält sie ihn zurück, lässt ihn innehalten. Sucht nach einem Bild. Einem Körper. Einem Gesicht, nur vage vertraut. Löst den Druck ihrer Hände.
    Und, sagt Tristan, hast du darüber nachgedacht?
    Er sitzt hinter dem Tisch und scheint heute nur aus Augen zu bestehen. Augen und einem Mund, vielleicht noch zwei Arme in einem blassblauen Pullover.
    Sie nickt. Und du?
    Ich auch. Du musst aber zuerst sagen, was dir in den Sinn kam. Das ist nämlich wichtiger.
    Aber du bist der Profi.
    Er lacht kurz. Psychologen sind nie Profis, weißt du das etwa nicht? Wir stümpern nur so ein bisschen herum. Laien von Berufs wegen.
    Ach ja? Sie sieht ihn ungläubig an. Holt schließlich, als er ihrem Blick standhält, tief Luft, als gelte es abzutauchen. Sagt: Ich glaube, mit diesen Reiseführungen, die ich machte, lag ich gar nicht so falsch. Nicht, dass ich genau das Gleiche wieder machen will. Aber mit Menschen – sie unterbricht sich kurz, kräuselt die Stirn über die Banaliät der Aussage – na, du weißt schon. Mit Menschen zu tun zu haben, gefällt mir.
    Er nickt. Ja, das dachte ich mir.
    Tourismus also, sagt sie. Vielleicht. Das Problem ist nur, dass die Insel so klein ist.
    Klein, denkt sie, und umzingelt vom Meer. Kein Entkommen möglich. Und kein Geheimnis. Jeder von ihnen ein offenes Buch. Eine Landkarte, auf der die Lebensstationen eingezeichnet sind wie Sehenswürdigkeiten. Heirat, Kinder, Scheidung, Tod. Aber stimmt das? Was weiß sie denn von ihm? So gut wie nichts. Und er von ihr? Nicht viel mehr. Sie wünscht es sich.
    Ja, sagt er. Groß ist sie nicht. Er sieht sie nachdenklich an, dann schaut er zum Fenster, das erfüllt ist von der
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