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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben
Autoren: Annette Mingels
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Nachmittagssonne. Die Kälte ist noch einmal zurückgewichen. Ein spätherbstliches Hoch hat sich zwischen Regen und Schnee gedrängt wie ein resoluter Polizist, der den Verkehr umleitet.
    Wollen wir, fragt er, ein bisschen rausgehen? Er wirkt verlegen. Du bist meine letzte Klientin heute und die Sonne ist so schön – aber sag ruhig, wenn es dir nicht recht ist.
    Doch, sagt sie. Gern.
    Er führt sie durch den Garten. Öffnet ein niedriges Tor. Sie stehen auf einem Weg aus festgetretenem Sand. Links geht es zur Innenstadt, rechts in einen kleinen Wald. Er lässt sie entscheiden. Rechts, sagt sie, und sie gehen los.
    Einige Minuten sagt keiner ein Wort. Es ist kein angestrengtes Schweigen. Eher eine Ruhe, die Anne Zeit gibt, sich umzuschauen. Der Weg verläuft parallel zu einem Bach, den sie nach kurzer Zeit auf einer schmalen Holzbrücke überqueren. Wenn sie sich über das Geländer lehnt, kann sie die Fische im Wasser erkennen. Ihre dunklen kleinen Leiber, die launischen Richtungswechsel. Als sie den Wald betreten, wird die Luft merklich kühler. Irgendjemand hat ein Baumhaus in eine stämmige Eiche gebaut. Von dort oben muss das Meer zu sehen sein. Sie bleiben stehen. Legen den Kopf in den Nacken. Vom Boden zum Haus sind es gut zehn Meter, eine Leiter fehlt. Der oder die Bewohner müssen jedes Mal eine Leiter mitbringen. Oder am Baum hinaufklettern, von Ast zu Ast. Besucher würden rufen müssen. Vielleicht einen Vogelruf imitieren: ruckedigu, ruckedigu.
    Mir fielen, sagt Tristan, als sie weitergehen, zwei, drei mögliche Berufe ein. Hör’s dir mal an, okay? Sag nicht gleich nein.
    Nein, sagt sie. Also ja.
    Tristan sagt: Das Erste, was mir einfiel, war so was wie Eventmanagerin. Klingt fürchterlich. Ist es aber nicht.
    Während er spricht, sieht Anne Bilder vor sich. Bilder von sich. Sie, bei der Organisation eines Festes. Bei der Vorbereitung einer Ausstellung. Bei der Eröffnung eines Symposiums. Sie, beim Betreten eines Restaurants. Beim Gespräch mit Kunden. Beim Telefonieren. Sie, gewandter, jünger, schöner, als sie ist. Unversehrt. Als hätte jemand die Zeit zurückgedreht.
    Ich weiß nicht, sagt sie. Kann ich so was denn?
    Och, sagt er, bestimmt.
    Er sagt es zuversichtlich und so, als ob Annes Einwand erwartbar gewesen wäre. Erwartbar, aber unbegründet. Und als würde sie das selbst wissen.
    Und was wäre das Zweite?
    Tja, sagt er, was ganz anderes. Und doch nicht so unähnlich.
    Er sieht sie prüfend an, und sie braucht einen Moment, um es zu bemerken. Inzwischen haben sie den Wald hinter sich gelassen. Felder liegen vor ihnen, abgeerntet. Am Rand blüht späte Ackerwinde. Die stoppeligen Ähren. Der tiefblaue Himmel, das letzte Grau daraus vertrieben. Der baumlose Horizont. Nichts, was den Blick verstellt.
    Also?, fragt sie. Sie weiß nicht, ob sie ihm sein Zögern glauben soll. Vielleicht will er sie einfach nur in Sicherheit wiegen. Und sie so dazu bringen, mehr von sich preiszugeben. Ihm zu zeigen, wer sie ist. Wie. Und wenn schon, denkt sie.
    Maklerin.
    Nur dieses Wort. Er wartet auf ihre Reaktion. Sie sagt langsam: Aha.
    Vor allem ginge es wohl um Ferienhäuser, sagt er. Aber nicht nur. Deine Aufgabe wäre es, zu vermitteln. Zwischen den Käufern und Verkäufern. Und beiden das Gefühl zu geben, ihre Interessen zu vertreten.
    Klingt gut, sagt sie.
    Sie hat keine Ahnung von dem Metier. Aber sie merkt, dass es ihr gefallen könnte. Sie hat sich schon immer für Häuser interessiert. Sie mag es, durch Wohnviertel zu laufen und in erhellte Fenster zu schauen. Einen Blick zu erhaschen auf fremde Möbel, fremdes Leben. Schon als Kind hat sie das geliebt. Manche Bekanntschaften hat sie nur geschlossen, um Zugang zu den Häusern zu erhalten. Sich vorzustellen, ein anderes Leben zu führen. In einem anderen Bett zu schlafen. An einem anderen Tisch zu sitzen.
    Keine Ahnung, in welchem Beruf bessere Chancen bestehen, sagt Tristan. Aber das finden wir raus.
    An einer Wegkreuzung steht ein Steinkreuz, in dessen Sockel lateinische Worte eingraviert sind.
    Kannst du das lesen?, fragt Anne, und Tristan sagt: Lesen schon, nur verstehen kann ich es nicht mehr. Kein Wort.
    Sie biegen links ab. Passieren ein dunkles Holzhaus mit roten Fensterläden, ein Försterhaus wie von einer Postkarte. Auf dem Rasen davor steht ein niedriges Gehege. Sie beugen sich über den Gartenzaun, aber sie können kein Tier entdecken. Vielleicht eine Schildkröte, die so grün ist wie das Gras, sagt Anne. Halten die nicht
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