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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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Donnerstag, 17. Juni, abends
     
     
I
     
    Über Otto Ronskys Land – jenem Stück Land am Ufer des Fox Lake, das einst Papa gehört hatte – ging die Sonne unter, als man Mama nach Hause brachte, gefangen in ihrem gelähmten Leib wie in einer »Eisernen Jungfrau«. Nur ihre Augen bewegten sich und flatterten. Katie ängstigte sich.
    »… noch etwa drei Fuß, langsam jetzt …«, gab Papa dem Fahrer des Krankenwagens Anweisung, der mit einem Arm den Wagen lenkte, dabei den Kopf aus dem Fenster reckte und rücklings an die Tür des Farmerhauses heranfuhr.
    »Reicht … reicht«, sagte Papa, »… und jetzt halt!« Der Fahrer, ein junger Mann, der sehr unsicher wirkte, trat eine Spur zu fest auf die Bremse. Das Fahrzeug machte einen Ruck. Mama sagte nichts – aber sie war dazu auch nicht imstande.
    Papa bedachte den Fahrer mit einem vorwurfsvollen Blick, drehte sich um und verscheuchte Old Robert mit einem Fußtritt von der Verandatreppe, ohne ihn dabei wirklich zu treffen – nur ein Umstoßen mit dem Stiefel war es. Old Robert kannte diesen Vorgang. Er landete auf dem Rücken und streckte alle viere von sich. Dann strampelte er ein wenig, kam sofort wieder auf die Beine, wedelte mit dem räudigen Schwanz und sah drein, als hätte er das Ganze ungemein genossen.
    David, der auf der Veranda stand, warf Katie einen mißbilligenden Blick zu: Dein Alter ist immer noch derselbe. Papa schenkte niemandem Beachtung. Er ging ans Heck des Fahrzeuges, schlug mit der flachen Hand darauf. Papa würde bald die Sechzig hinter sich haben, und das sah man ihm auch an, aber er verfügte noch immer über Bärenkräfte. In der Gemeinde tat sich nichts ohne sein Wissen und wenig, wozu er nicht mit Rat und Tat beigetragen hätte.
    »Na, schaffen wir sie raus«, wies er den Fahrer und dessen Helfer an. Die beiden kletterten daraufhin aus dem Krankenwagen. Sie kamen aus St. Cloud, aus der Stadt, und Papa machte sich nicht viel aus Stadtleuten.
    David öffnete Katie die Haustür, gemeinsam stiegen sie die Verandastufen hinunter. Die Hecktür des Krankenwagens schwang auf, der Helfer öffnete eine Metallsperre und ließ die Bahre vorgleiten. Mamas Augen waren angsterfüllt.
    »Katrin«, sagte Papa mit einem Kopfnicken als Begrüßung zu seiner Frau. Für ihn beinahe überschwenglich.
    Katie beugte sich nieder und küßte ihre Mutter auf die Lippen. Sie fühlte dabei die Hilflosigkeit des gelähmten Körpers und sah in den flehenden Blicken das Entsetzen der Wortlosigkeit.
    »O Mama …«, setzte sie an und konnte vor Tränen nicht weitersprechen.
    »Katie …«, beruhigte David sie.
    Doch der Arm, der sie sachte wegdrängte, gehört ihrem Vater. Sie preßte sich an ihn.
    »Schaffen wir sie erst ins Haus«, sagte Ben Jasper. »Zum Weinen ist später auch noch Zeit.«
    Old Bens Lippen berührten die langen dunklen Haare seiner Tochter so flüchtig, daß ein zufälliger Beobachter es als optische Täuschung eingestuft hätte. Dann verhärteten sich seine Züge wieder, und die Sichelnarbe auf der linken Wange spannte sich. »David, halte die Verandatür auf«, befahl er seinem Schwiegersohn.
    Seine Stimme war fest. Er war ganz und gar beherrscht. Wie immer.

 
II
     
     
    Knapp vierundzwanzig Stunden zuvor hatte Katie eine Nachricht erhalten, die früher oder später fast jeder erhält. Eine Generation ist abgetreten oder im Begriff, die Welt zu verlassen.
    Es war kurz nach dem Abendbrot. Katie und David hatten sich wegen des geplanten Babys aufgezogen, hatten darüber ganz unbefangen und nicht mehr so nervös wie früher geplaudert. Die Ärzte waren sicher, daß es diesen Monat klappen würde. Katie hatte eben das Geschirr abgeräumt, damit ihr Mann auf dem Tisch an seinem Plädoyer arbeiten konnte. Sie waren schon fast drei Jahre verheiratet, aber David hatte sein Jura-Studium eben erst abgeschlossen, und ihre Wohnung in Minneapolis war noch nicht bezogen.
    »In unserer Firma gibt es Leute, die in meinem Alter bereits Teilhaber sind«, meinte er unzufrieden.
    »Zweiunddreißig ist doch kein Alter«, hatte sie entgegnet. »Und du bist besser als die anderen – du wirst sie einholen.«
    »Ja, aber wenn ich mich nicht so mühsam durchs Studium hätte kämpfen müssen, wäre ich schon viel weiter.«
    Sie hatte ihn trösten wollen, doch da hatte das Telefon geklingelt.
    »Katherine«, sagte der Mann am Telefon. Er fragte nicht, er sagte es einfach.
    Sie erkannte die Stimme ihres Vaters, noch ehe er ihren vollen Namen aussprach, und sie war
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