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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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daran.

 
III
     
     
    Aggie Jensen schob den alten Küchentisch beiseite, damit sie mit der Tragbahre vorbei konnten. Sie war eine kräftig gebaute Frau in mittleren Jahren. Die großen grünen Augen blickten sanft, leuchtend und klug in die Welt.
    »Ich rück ihn einfach … da rüber«, sagte sie in ihrem schwedischen Singsang, den man in den alten Landstädten und Dörfern von Min-niii-soota öfter zu hören bekommt.
    Die Krankenwärter trugen Mama ins große Schlafzimmer am Fuß der Treppe. Es ist Tradition in diesen schachtelähnlichen alten Farmhäusern, eine Tradition unter den Menschen der nördlichen Region: Vater und Mutter schlafen unten, Kinder oben. Während sie der Tragbahre folgte, wurde Katie von der traurigen Erinnerung an all jene einsamen Jahre überflutet, im Obergeschoß des Hauses, in dem vier Zimmer darauf warteten, von Kindern bevölkert zu werden, die nie kamen. Irgend etwas war da unten schiefgegangen im Leib ihrer Mutter, und drei Räume hatten niemals eine Wiege gesehen, niemals Spielzeug, Kinderbettchen, Bilder an der Wand …
    »Und jetzt versuch mal, dich zu beruhigen, Schätzchen«, riet Aggie ihr. »Du und ich, wir werden deine Mama schon gesundpflegen.«
    »Legt sie aufs Bett«, ordnete Ben Jasper an. »Sie, David, Sie packen mit an. Vorsicht.«
    Die Wärter stellten die Bahre behutsam neben dem großen Doppelbett ab, hoben die Frau hoch und legten sie aufs Bett, auf die schwere Steppdecke. Mama und Aggie Jensen hatten diese Decke angefertigt, als Katie dreizehn war. Erinnerungen.
    »Da, ihre Augen«, rief David plötzlich erschrocken. Übers Bett gebeugt, sahen sie es mit wachsender Verwunderung, die schnell zu Angst wurde. Die Augen der Kranken weiteten sich, wurden groß, angsterfüllt, als wollten sie aus dem Kopf quellen.
    Die Krankenwärter waren wie vor den Kopf geschlagen. Katie selbst war entsetzt. Aggie Jensen sah erstaunt drein, David ebenfalls. Nur Ben bewahrte Ruhe.
    Jetzt schossen die Augen der Kranken Blicke durch den Raum, hin und her, die Ränder der dunkel werdenden Zimmerdecke entlang, in deren Ecken und Winkel die letzten ersterbenden Sonnenstrahlen fielen.
    »Sie sieht aus, als fürchte sie sich vor etwas«, sagte David leise und beklommen.
    »Wenn sie uns nur sagen könnte, warum«, flüsterte Aggie und beugte sich tiefer übers Bett.
    »Hüte deine Zunge, du alte Närrin«, grollte Ben und streckte seinen kräftigen Arm zwischen Aggie und sein Weib.
    »Ich schätze, das wär’s wohl für uns, nicht?« äußerte der Fahrer des Krankenwagens hoffnungsvoll, während er und sein Kollege sich schon bis an die Tür zurückgezogen hatten.
    »Das wär’s, jawohl«, stieß Ben hervor.
    Draußen im Hof fuhr ein Wagen vor. Old Robert ließ gewohnheitsmäßig ein paar Kläffer ertönen. Mehr Energie hatte er nicht mehr.
    »Das wird Doc Bates sein«, murmelte Ben. »Er sagte, er wollte vorbeikommen, sobald man sie heimgebracht hätte.«
    Papa ging hinaus, um den Arzt zu begrüßen. Die Krankenwärter folgten ihm, sie wollten so schnell wie möglich aus diesem Haus.
    »Ach, Mama«, rief Katie und beugte sich über die Schwerkranke. »Was ist bloß mit dir passiert?«
    »Das kriegen wir heraus«, versprach Aggie leise und mit einem Blick zur Tür, der sicherstellen sollte, daß der alte Ben tatsächlich draußen war.
    Auch David beugte sich über die Frau. »Ihre Augen bewegen sich nicht mehr. Ich glaube, sie kann uns verstehen.«
    »Und woher sollen wir das wissen?«
    »Mutter«, sprach David sie leise an. »Hörst du uns? Wenn ja, dann blinzle mit den Augen.«
    Katrins Blick verriet Erleichterung, ja Frohlocken auf diesen Vorschlag hin. Langsam schloß die Kranke die Augen und schlug sie wieder auf. In einen Augenwinkel trat eine Träne und lief ihr über die Wange. Katie wischte sie weg.
    »Mama, jetzt sind wir da«, sagte Katie.
    Doch da weiteten sich die Augen wieder vor Entsetzen, vor schierem Entsetzen.
    Doc Bates blieb in der Tür stehen, trat dann ein, gefolgt von Ben. Der Doktor war ein magerer, stocksteifer Mann mit graumeliertem Haar und einem schmalen, verkniffenen Mund. Er war es gewohnt, daß man ihm Respekt und Gehorsam entgegenbrachte. In St. Alazara galten seine rohen Witze als Quintessenz des Humors, aber Katie hatte ihn insgeheim immer für einen widerlichen Kerl gehalten.
    »Na, wie geht es uns jetzt, Katrin?« sagte der Doktor und stellte seine schwarze Tasche neben dem Krankenbett ab. »War die Heimfahrt angenehm?«
    Er beugte sich nieder und sah
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