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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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Pappel und Esche lichteten sich und an ihre Stelle traten vom Wind zersauste Kiefern, die ersten Zeichen dafür, daß das große Waldgebiet Nordamerikas nahe war, das sich unendlich weit nach dem Norden erstreckte, bis zur Hudson Bay, bis zur arktischen Tundra, bis an den Yukon und den Großen Sklavensee.
    Hier, im Norden Minnesotas, am Rande dieses Waldgebietes, auf unheilvoll brütendem, mühselig zu bearbeitendem Land lag St. Alazara, das Dorf von Katies Vorfahren. Sie waren längst verblichen – der Dorffriedhof war fast voll –, und auch das Dorf schien im Sterben zu liegen, die Lebenskraft war geschwunden und mit ihr die Hoffnung. Dunkel war es wie das Mittagslicht unter den schweren Kiefern. Die nächste Stadt, St. Cloud, fast eine Stunde entfernt und nur über eine schlechte Straße zu erreichen, hatte ihre beste Zeit auch bereits hinter sich. Es war, als hätte nach Jahren der Ausbeutung der Boden, ja das ganze Land endlich gesagt: Genug!
    Das Gefühl, das sie auf der Fahrt hierher überfallen hatte neben David, der stumm hinter dem Steuer des Mustang gesessen hatte, war ähnlich: ein Gefühl des Vergehens, des Absterbens, das Ende einer Zeit. Und das lag nicht nur an ihrer Mutter. Es war mehr. Sie fuhren auf dem alten Highway 52 nordwärts, der einstigen Route der Pelzhändler, der Ochsenkarren. Nachdem sie schließlich die Steigung hinter sich hatten, erreichten sie das Hochland nahe Clearwater. Meilen entfernt, die Bäume spitz überragend, wurde der Kirchturm von St. Alazara sichtbar. Katie verspürte vage Unruhe bei dem Gedanken an den Pfarrer, an Reverend Mauslocher. Sie dachte an die langen Sonntage ihrer Kindheit, seine wilden cholerischen Predigten – eigentlich nichts weiter als pathetisches, schwülstiges Gerede –, Predigten; in denen sie niemals einen Sinn finden konnte.
    Mauslocher war schon lange vor Katies Geburt Seelenhirte der Gemeinde gewesen. Er hatte in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die Nachfolge des alten Reverend Pierce angetreten, der eines Nachts auf dem Heimritt nach einem Krankenbesuch am nördlichen Himmel als Vision ein großes Kreuz aus Weizenähren erblickt hatte. Seitdem hatte diese Vision sein einziges Thema gebildet. Er sah in ihr ein Zeichen, daß St. Alazara und seine Menschen auserwählt, gesegnet und erhoben wären. Bis es dem Bischof in St. Cloud zu bunt wurde und er ihn, eifersüchtig, daß nicht ihm selbst diese Vision zuteil geworden war, kurzerhand als Missionar nach Sansibar versetzte, wo er das reibungslose Funktionieren kirchlicher Bürokratie nicht weiter behindern konnte.
    Mauslocher aber hatte seine eigenen Visionen, undeutlichere zwar, aber um nichts weniger seltsame. Seine Predigten waren undurchsichtig, angsteinflößend und drohend, durchsetzt mit seltsamen Verweisen auf »Opfer«, »Erneuerung« und verhüllten Anspielungen, sexuell gefärbten Vergleichen wie »Brüste der Erde« oder »Samen in den Schoß der Erde fließen lassen«, Hinweisen auf die »reichen Lenden von St. Alazara, deren Schoß die Frucht unserer Hoffnung trägt«. Katie sah von ferne den Kirchturm und schauderte.
    David übersah die Abzweigung, die zum Dorf und zu dem drei Meilen außerhalb gelegenen Anwesen der Jasper führte. Er mußte umkehren und zurückfahren.
    »Die Hinweistafel ist weg«, sagte Katie. »Vielleicht hat ein Kind sie gemaust.«
    »Vielleicht ist sie umgefallen«, murmelte David geringschätzig. »Außerdem ist es doch gleichgültig. Hier braucht niemand zu wissen, wo es langgeht. Hier kommt ohnehin niemand mehr her.«
    Die Zufahrt führte zunächst am Friedhof vorüber, einem kleinen, aber gepflegten Fleckchen, umgeben von einem alten Eisenzaun, bewacht von dunkel dräuenden Zypressen und ein paar verdorrten, verwitterten Goldkiefern.
    »Hier landen alle aus der Gegend«, hatte David einst in einem Moment der Verbitterung gesagt.
    Dann kam die Kirche, von den Gründern des Dorfes vor etwa hundert Jahren aus massivem Stein erbaut, mit einem hochaufragenden unglaublichen Kirchturm. Präriegotik. Daneben das alte Schulhaus aus roten Ziegeln. Dann Pelsers Bestattungsinstitut, ein gedrungener Bau mit großen, reichverzierten Doppeltüren aus gebeizter Eiche. Ein paar kleine bungalowähnliche Häuser, die in Wirklichkeit wenig mehr als schäbige Bruchbuden waren. Die Tankstelle von Old Willis. Rasmussens Wagonwheel-Laden, mit dem alten ramponierten Rad als Wahrzeichen, und hinter dem Laden das große Rasmussen-Haus, das nur wenige jemals betreten hatten
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