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Tokyo Love

Tokyo Love

Titel: Tokyo Love
Autoren: Hitomi Kanehara
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kritisch.
    »Zeig mir die Zunge!«
    Ich gehorchte. Blut tropfte auf den Boden – zusammen mit meinen Tränen.
    »Nimm den Stift raus!«
    Ich schüttelte den Kopf, worauf Shiba-sans Miene förmlich zusammensackte.
    »Ich hab dir doch gesagt, du darfst es nicht gewaltsam weiten.«
    Er drückte mich fest an sich.
    Es war das erste Mal, daß er mich so umarmte. Weder ein noch aus wissend, lag ich in seinen Armen und schluckte das hervorquellende Blut hinunter.
    »Nach dem 00-g-Stift werde ich sie splitten.«
    Mein Gestammel wirkte genauso schmierig und schmuddelig wie Amas schludriges Lachen.
    »Okay, okay«, versuchte mich Shiba-san zu beschwichtigen.
    Ich merkte, daß ich aufgehört hatte zu weinen. Was würde Ama wohl sagen, wenn er das 0g-Piercing in meiner Zunge sah? Er würde es bestimmt toll finden. Du hast es gleich geschafft, würde er begeistert rufen und sich mit mir freuen – ganz sicher.
    Ich trank Bier und heulte mir die Augen aus dem Kopf, darauf lauernd, daß Ama zurückkam. Shiba-san, der die ganze Zeit über schwieg, beobachtete mich.
    Ein weiterer Abend brach an. Im Zimmer wurde es kühl, und ich zitterte am ganzen Leib. Ohne ein Wort zu sagen, schaltete Shiba-san die Heizung an und legte mir eine Decke um, während ich reglos dahockte. Die Zunge blutete nicht mehr, doch immer wieder mußte ich weinen. Meine Gefühle schwankten, hin- und hergerissen zwischen Traurigkeit und Wut.
    Es war inzwischen sieben – die Zeit, zu der Ama normalerweise von der Arbeit nach Hause kam. Alle zehn Sekunden starrte ich auf die Uhr und klappte mein Handy auf. Ich versuchte, Ama zu erreichen, doch es meldete sich immer nur die Mobilbox.
    »Sag mal, weißt du zufällig, in welchem Laden Ama arbeitet?«
    »Wie? Den kennst du auch nicht?« fragte Shiba-san zurück und starrte mich ungläubig an. Ja, es stimmte: Wir wußten gar nichts voneinander.
    »Nein.«
    »Es ist ein Secondhandshop. Das ist ja echt ‘n Ding! ihr scheint euch ja überhaupt nicht zu kennen. Das heißt, du hast dort noch gar nicht angerufen?«
    »Nee.«
    Shiba-san ließ sein Handy aufschnappen, tickerte die Nummer ein und hielt sich den Apparat ans Ohr.
    Hallo, ich bin’s. Es geht um Ama … Aha … Unentschuldigt gefehlt … Und gestern? … Verstehe. Er ist nämlich nicht nach Hause gekommen … Ja, ich weiß auch nicht, was los ist … Gut, wenn ich was höre, sag ich Bescheid.
    Allein den Bruchstücken der Unterhaltung konnte ich entnehmen, daß keiner etwas wußte. Seufzend legte Shiba-san auf.
    »Der Typ meinte, gestern hätte Ama pünktlich Schluß gemacht, um nach Hause zu fahren. Aber heute sei er nicht erschienen, hätte sich weder krank gemeldet noch abgesagt. Der Typ hat versucht, ihn mobil zu erreichen, aber erfolglos. Jetzt ist er stinksauer. Der Ladeninhaber ist nämlich ein Bekannter von mir. Er hat Ama eigentlich nur mir zuliebe eingestellt.«
    Ama war in der Tat ein unbeschriebenes Blatt für mich. Bis gestern hatte ich geglaubt, ich brauchte nur das von ihm zu wissen, was ich mit eigenen Augen sah. Doch jetzt stellte sich meine Ignoranz als verheerendes Versäumnis heraus. Wieso hatte ich mich denn bloß nie nach seinem Namen und seinen familiären Verhältnissen erkundigt?
    »Hat Ama denn keine Verwandten?« fragte ich.
    »Weiß ich nicht. Vielleicht noch einen Elternteil.
    Ich entsinne mich, daß er mal von seinem Vater gesprochen hat.«
    »Ach so«, murmelte ich und brach erneut in Tränen aus.
    »Hör mal, wollen wir nicht was essen gehen? Ich sterbe vor Hunger.«
    Meine einzige Reaktion auf seinen Vorschlag war ein weiterer Weinkrampf. So war es auch immer zwischen Ama und mir gewesen: Ich wollte mich bloß mit Bier abfüllen, während er einen Mordshunger hatte und mich gewaltsam nach draußen schleppte.
    »Ich bleib jedenfalls hier. Du kannst ruhig gehen.«
    Shiba-san gab keine Antwort, sondern ging in die Küche und warf einen Blick in den Kühlschrank. »Mensch, hier gibt’s ja nur Suff«, zischte er verächtlich und kramte gerade eine Tüte mit getrockneten Tintenfischen hervor, als sein Handy klingelte.
    »He, es klingelt!« schrie ich aufgeregt und war selbst erstaunt über meine gellende Stimme. Mein Herz klopfte beängstigend, so daß ich eine Hand auf die Brust preßte, während ich sein Handy schnappte und es ihm zuwarf. Er fing es geschickt auf und nahm das Gespräch an.
    »Hallo? … Ja … Mhm … Ja. Hm … Verstehe. Wir kommen sofort.«
    Als er aufgelegt hatte, packte er mich an der Schulter und blickte mir
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