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Tokyo Love

Tokyo Love

Titel: Tokyo Love
Autoren: Hitomi Kanehara
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fest in die Augen.
    »Sie haben eine Leiche in Yokusuka gefunden.
    Vielleicht ist es gar nicht Ama, aber der Tote hat ein Drachentattoo. Sie wollen, daß wir den Leichnam identifizieren.«
    »… Aha.«
     
    Ama war also tot. Der Ama, den ich in der Leichenschauhalle zu sehen bekam, war kein Mensch mehr, sondern nur noch ein toter Körper. Das lebendige Wesen Ama existierte nicht länger. Mir schwanden fast die Sinne, als ich die Aufnahmen vom Tatort erblickte. Ein netzartiges Muster war mit einem Messer oder ähnlichem tief in den Brustkorb geschnitten worden, und sein ganzer Körper war mit Brandmalen von Zigaretten übersät. Man sagte uns, ihm seien sämtliche Nägel an Fingern und Zehen gezogen worden. Auf dem Foto war er nackt, und aus seinem Penis stakte etwas, das aussah wie ein Räucherstäbchen. Das kurzgeschorene Haar war stellenweise rausgerupft, der Schädel blutverschmiert. Er hatte offensichtlich Höllenqualen erleiden müssen, bevor man ihn umbrachte. Der Mensch, der eben noch zu mir gehörte, war von einem Fremden gefoltert und ermordet worden. Noch niemals in meinem Leben hatte ich eine solche Verzweiflung erlebt. Amas Leichnam wurde dann in die Autopsie gebracht, um noch weiter zerstückelt zu werden. Ich war so benommen, daß ich nicht mal Wut empfand. Soweit ich mich entsinnen konnte, waren meine letzten Worte an ihn »Mach’s gut!« gewesen, wobei ich mich zum Abschied nicht mal nach ihm umgedreht hatte, weil ich in Gedanken schon ganz bei meinem Stelldichein mit Shiba-san gewesen war.
    Shiba-san stützte mich jedesmal, wenn ich anfing zu taumeln, und fing mich schließlich auf, als ich in der Leichenhalle zusammenbrach. Ich hatte recht behalten: Es gab kein Licht am Ende des Tunnels.
     
    »He, reiß dich zusammen, Lui!«
    »Laß mich!«
    »Du mußt was essen!«
    »Laß mich!«
    »Dann leg dich wenigstens ein bißchen hin!«
    »Laß mich!«
    Nachdem Amas Leiche gefunden worden war, wohnte ich bei Shiba-san, der sich um mich kümmerte. Es war unsere typische Konversation.
    »Das ist doch keine Unterhaltung«, beschwerte sich Shiba-san und schnalzte unwirsch mit der Zunge.
    Die Autopsie ergab, daß Ama erwürgt worden war. Durch ein bestimmtes Verfahren wurde außerdem festgestellt, daß ihm die Wunden noch am lebendigen Leib zugefügt wurden. Tja und? Die sollten mal lieber schleunigst den Täter fassen. Mich interessierte es einen Scheiß, wie er umgekommen war. Ich wollte vor allem wissen, wer es getan hatte. Es gab da wohl eine ganze Reihe von Anhaltspunkten. Ich jedenfalls konnte mir keinen Reim auf die Sache machen. Im ersten Moment, als Ama ermordet aufgefunden worden war, glaubte ich, der Kumpel von dem Schlägertypen habe die Tat begangen, doch nachdem ich die Leiche gesehen hatte, verwarf ich diesen Gedanken wieder. Ein Gangster würde wohl kaum Spuren wie Zigarettenbrandmale oder Räucherstäbchen im Penis als belastendes Beweismaterial hinterlassen. Wer immer es gewesen sein mochte, ich wünschte, er hätte die Leiche in der Bucht von Tokio versenkt, dann wäre mir der Anblick erspart geblieben. Ama wäre nie gefunden worden, und ich hätte mich der Illusion hingeben können, er lebte irgendwo bis in alle Ewigkeit. Es stimmte also, daß Ama den Typen in Shinjuku erschlagen hatte. Aber jetzt, wo der Täter selbst ermordet aufgefunden wurde, spielte das keine Rolle mehr. Die Tat, die Ama begangen hatte, verlor damit jegliche Bedeutung, denn nun waren Opfer und Mörder tot.
     
    Ich ging zu Amas Beerdigung. Sein Vater begrüßte mich sehr freundlich ohne mißbilligenden Blick auf mein blondgefärbtes Haar, das so gar nicht zu der Trauerkleidung paßte. Im Krematorium wurde der Sargdeckel ein Stück weit geöffnet, um Amas Gesicht freizugeben, doch ich konnte es mir nicht anschauen. Ich wollte ihm nicht Lebewohl sagen. Statt dessen hielt ich an dem Glauben fest, daß der Ama, den ich in der Leichenschauhalle gesehen hatte, noch am Leben sei, die Leiche im Sarg hingegen ein Fremder. Ich konnte nicht anders, als vor der Realität zu flüchten. Ich hatte Ama wohl doch geliebt, sonst würden mich diese peinigenden Gedanken nicht so verfolgen.
    »Wann wird der Mörder denn nun endlich gefaßt?«
    »Wir tun alles in unserer Macht Stehende.«
    »Ha, ich bereite Ihnen wohl Unannehmlichkeiten mit meinen Fragen, was?« provozierte ich den Polizeibeamten, als die Trauerfeier vorbei war.
    »Lui, hör auf damit!«
    Shiba-san versuchte mich zu bremsen. Was hatten die hier auf der Beerdigung verloren,
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