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Tokyo Love

Tokyo Love

Titel: Tokyo Love
Autoren: Hitomi Kanehara
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überzeugt, es sei jemand anderes. Daß Ama so was …«
    Shiba-san ergriff meine Hand und hielt mich fest.
    »Wenn du ihn als vermißt meldest, schnappen sie ihn vielleicht. Angenommen, Ama weiß, daß er gesucht wird, und versucht zu fliehen, dann stehen die Chancen für ihn besser, wenn wir so tun, als wüßten wir von nichts.«
    »Aber ich mach mir solche Sorgen um ihn. Es tut so weh, nicht zu wissen, wo er steckt, was er treibt, was in ihm vorgeht. Ama … Ama würde niemals alleine fliehen, das kann ich mir nicht vorstellen. Er hätte sonst garantiert was zu mir gesagt. Er hätte mich ganz bestimmt mitgenommen.«
    »Na gut! Dann los!«
    Shiba-san machte seinen Laden dicht, und wir gingen zum Polizeirevier. Dort gab er routiniert eine Vermißtenanzeige auf und legte ein Foto vor, das Ama mit nacktem Oberkörper zeigte.
    »Ich wußte gar nicht, daß du ein Bild von ihm hast.«
    »Äh? Ach so, ja, die Aufnahme haben wir aus Quatsch gemacht, als ich ihm den Drachen tätowierte.«
    »Kazunori Amada … ja?« vergewisserte sich der Beamte, den Blick auf das Anzeigeformular gerichtet. Zum ersten Mal hörte ich Amas richtigen Namen. Also nicht Amadeus. Sollte ich ihn wiedersehen, würde ich ihm das als erstes unter die Nase reiben. Bei dem Gedanken stiegen mir Tränen in die Augen. Ich konnte sie nicht länger zurückhalten und ließ ihnen freien Lauf. Obwohl ich dabei ganz ruhig blieb, tropften sie mir von den Wangen, als wären meine Tränendrüsen defekt.
    »Bist du okay?« fragte Shiba-san und strich mir über das Haar, was jedoch meinen Tränenfluß nicht zum Stoppen zu bringen vermochte. Mit gesenktem Kopf ging ich zum Ausgang und ließ mich auf einer Bank im Warteraum nieder, weiter vor mich hin weinend. Wieso? Warum ist er so plötzlich verschwunden? In mich zusammengekrümmt, schluchzte ich laut los. Ein Weilchen später, nachdem er die Formalitäten erledigt hatte, kam Shiba-san zu mir. Mein Blick war völlig verschleiert. Sosehr ich meine Augen auch zu trocknen versuchte, der Tränenfluß wollte nicht versiegen. Als ich mir mit dem Ärmel immer wieder über das nasse Gesicht wischte, fühlte ich mich wie ein kleines verheultes Kind. Wir nahmen uns ein Taxi, um zu Amas Apartment zu fahren.
    »Ama?« rief ich an der Wohnungstür, doch es kam keine Antwort. Shiba-san streichelte mein Gesicht und trocknete meine Tränen, als ich erneut zu weinen begann. Ich setzte mich auf den nackten Holzboden und wimmerte vor mich hin. Er ließ sich auf dem Rand des Bettes nieder und sah mich prüfend an, während ich heulte.
    »Warum nur?« schrie ich und schlug auf die Dielen. Es klirrte laut, als mein Zeigefinger mit dem Silberring, den ich von Shiba-san bekommen hatte, am Boden aufschlug. Der grelle Ton brachte mich noch mehr zum Weinen. Wieso? Wieso hat er mich im Stich gelassen? Als meine Tränen endlich versiegten, spürte ich Wut in mir hochkochen. Ich biß die Zähne so fest zusammen, bis mein Unterkiefer schmerzte. Hinten im Mundraum knackte es. Als ich mit der Zunge herumtastete, spürte ich, daß der morsche Backenzahn fehlte. Ich zerkaute ihn und schluckte die Brösel runter. Sollte er mein Fleisch und Blut werden. Alles sollte ein Teil von mir werden. Mit mir verschmelzen. Alles, auch Ama. Sich ihn mir einverleibend, sollte er mich für immer lieben. Besser ein Teil von mir sein, als plötzlich von der Bildfläche zu verschwinden. Dann würde ich nicht diese entsetzliche Einsamkeit erleiden. Er hatte mir doch erklärt, wie wichtig ich für ihn sei. Wieso hat er mich dann verlassen? Wieso?
    Im Zimmer hallte mein ohrenbetäubendes Geschluchze. Ich öffnete die Schmuckschatulle, die ich mit Ama gemeinsam benutzte, und nahm einen Piercingstift heraus. Erst gestern hatte ich das Loch auf 2g erweitert, so daß ein weiteres Dehnen schier unmöglich war. Trotzdem griff ich nach dem kurzen quadratischen Bolzen – der finale 0g. Ich sah Shiba-san kreidebleich werden, als er merkte, was ich vorhatte.
    »He, das ist doch der 0er. Du hast doch gestern erst den 2er reingemacht.«
    Ohne mich nach ihm umzudrehen und auf seine Bemerkung einzugehen, baute ich mich vor dem Spiegel auf und entfernte den 2er-Stift. Statt dessen preßte ich nun den größeren hinein. Als er halb drinnen war, durchzuckte mich ein stechender Schmerz, doch ich drückte ihn trotzdem tiefer hinein. Shiba-san versuchte einzugreifen, aber der Stift ging glatt durch.
    »Mensch, bist du wahnsinnig!?«
    Shiba-san riß mir den Mund auf und prüfte ihn
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