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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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»Sumimasen, Sumimasen«, wiederholte ich die Entschuldigung, die mir jetzt aus Langenscheidts praktischem Kurs wieder einfiel.
    Ich zog meine Schuhe aus und stellte sie ins Schuh regal. Dabei fiel mir auf, dass die anderen Schuhe alle so sauber und glatt aussahen, als wären sie neu. Nur meine waren schmutzig. Ich nahm einen zweiten Anlauf für die Treppe, diesmal in Socken. Die Wirtin hielt mich abermals auf, zog ein Paar Slipper aus dem Regal und bedeutete mir, sie anzuziehen.
Es waren die größten, die sie hatte, und trotzdem etwas zu kurz. Täuschte ich mich, oder hatte sie meinen schweißigen Socken einen etwas missbilligenden Blick zugeworfen?
    Oben suchte ich meine Tür und fand einen Raum von fünf Tatami Größe, ausgestattet mit einem Fernseher und einem Aschenbecher dahinter. Ich ließ meinen Rucksack fallen. Nach dem Desaster auf der Treppe zögerte ich, zum Gemeinschaftsbad hinunterzugehen. Was würde ich da noch alles falsch machen können? Doch da ich meinen eigenen Schweiß riechen konnte, musste ich für die Japaner stinken wie ein Wasserbüffel.
    Die Tochter der Wirtin fing mich am Fuß der Treppe ab und begann, mir in gebrochenem Englisch die verschiedenen Zonen für die Fußbekleidung zu erklären. »So dumm bin ich nun auch wieder nicht«, dachte ich. »Jetzt habe ich kapiert, dass man hier Hausschuhe trägt.«
    Auf dem Weg ins Bad musste ich durch den Essraum, klares Slipperterritorium. Zum Bad ging es einige Stufen hoch und durch einen dunklen Holzflur. Ich öffnete die Tür des Badebereichs und sah noch zwei Räume, einen zum Umkleiden und einen mit zwei Badewannen. Ich blickte lange in die Räume und wartete darauf, dass ein Japaner vorbeikommt. Es kam keiner. Also ging ich zum Essraum zurück und zog die Tochter der Wirtin am Ärmel ihrer Yukata bis zur Tür des Herrenbaderaums. Sie dachte offensichtlich, sie habe es mit einem Lustmolch zu tun, als ich die Tür öffnete und mit fragendem Gesichtsausdruck hineinzeigte. Doch dann zeigte ich auf meine Füße, sie lächelte und sagte mir, die Slipper sollte ich im Vorraum lassen.

    Sollte ich mir jetzt neues Wasser in die noch leere Edelstahlwanne einlassen oder in das vorhandene Wasser steigen? Außer mir wohnten an diesem Abend noch eine Gruppe von Geschäftsleuten in der Volksherberge sowie zwei Grüppchen von Jungen und Mädchen im Oberschulalter. Waren die jetzt alle schon in dem Wasser gewesen? Ich hielt mich an das, was ich in meiner Gastfamilie gelernt hatte: sich supergründlich abschrubben und dann ins gemeinsame Wasser steigen. Hinterher sollten keine Schaumblase und kein Härchen darauf schwimmen. Dann machte es auch nichts, dass hier schon sieben Leute durch waren. Ich hoffte, dass ich als Fremder das Wasser nun nicht irgendwie spirituell verunreinigte.

    Im Essraum saßen die Gäste auf etwas erhöhten Podesten mit Tatamimatten an niedrigen Tischen. Die Abendmahlzeit war im Preis inbegriffen: ein Stück gebratener Fisch, gedünstetes Gemüse, Miso-Suppe und eine Schale Reis.
    An diesem Abend überkam es mich zum ersten Mal. Ich blickte den Reis an und war überwältigt von seiner Schönheit. So intensive Gefühle gegenüber einem Nahrungsmittel sind vermutlich nur im begeisterungsfähigen Jugendalter möglich. Die lackierte Schale mit den glänzenden Reiskörnern, jedes einzeln erkennbar, aber alle klebrig miteinander verbunden, aufgehäuft zu einem Berg, einem Mikrokosmos elliptoider Schönheiten. Ein Fuji-san. Und das hier war ein Billigessen in einer Herberge mit Studenten und sparsamen Handelsvertretern.
    Plötzlich kam mir meine eigene Kultur armselig und unterlegen vor. Ich verglich das reine Reisschalenkunstwerk im Geiste mit deutschen Sättigungsbeilagen. Pommes, triefend
vor Soße, auf einem Teller. Oder deutscher, nicht-klebriger Reis, der einfach so herumliegt und sich mit Leipziger Allerlei und Krumen eines panierten Fischfilets mischt. Am besten schnitten noch gekochte Kartoffeln ab, elegant mit Soße dekoriert. Doch all das kam mir plötzlich inkonsequent vor, unrein gegenüber der edlen Einfachheit von so einer Schale Reis. Die Leute hier mischten ihn nicht mit Soßen, sondern hielten ihn vom übrigen Essen getrennt.
    »Alles in Ordnung?«, holte mich die Stimme der Wirtin in die Realität zurück. Ich war wieder im Speiseraum der Herberge. Plötzlich setzte auch der Ton von den anderen Tischen wieder ein, an denen sich die Gäste unterhielten. Mir wurde klar, dass ich längere Zeit mit einer stinkgewöhnlichen
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