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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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dem Kopf eine dekorative sternförmige Einkerbung. Alles lag dann so geschmackvoll ausgebreitet auf den Platten, dass ich es fast schade fand, den ganzen Segen einfach zu grillen. Glücklicherweise übernahm Herr Matsubara als Oberhaupt der Familie den brutalen Teil und schaufelte eine erste Runde von Fleisch und Gemüse auf die heiße Platte. Was fertig gebrutzelt war, pickten wir uns mit den Stäbchen heraus und tunkten es in verschiedene Soßen.
    Herr Matsubara fragte mich, ob ich Student sei, und ich sagte, ich leiste meinen Militärdienst ab und sei Soldat. Laute des Erstauens - schließlich ist Japan offiziell ein pazifistisches Land und kennt keine Wehrplicht. »Es ist völlig normal, erst mit 27 oder sogar über 30 mit dem Studium fertig zu werden und dann langsam auf Arbeitssuche zu gehen.« Diese unvorstellbaren Geschichten über das exotische Deutschland lösten Laute des Erstaunens bis zum Ende der Mahlzeit aus.

    »Und jetzt ins Ofuro!«, befahl Mutter Matsubara nach Essen und Tee. In Atami sprudelte überall heißes Vulkanwasser aus der Bergflanke, und das Haus meiner Gastfamilie war über ein Rohr an eine heiße Quelle angeschlossen, die in einiger Entfernung unter einer Anlage aus Beton und rostigen Röhren
dampfte. Im Baderaum des Hauses lief eine im Boden eingelassene Holzwanne voll, in der wir uns abends nach dem Duschen aufweichen konnten.
    Die Familie lebte auch sonst ziemlich traditionell. Zum Frühstück stellte die Hausfrau Schalen mit Reis auf den Tisch. Dazu gab es Miso-Suppe vom Vorabend oder eine Eierstich-Suppe aus der Fertigtüte. Jeder aß außerdem eine Packung Nattô. Das sind handtellergroße Plastikschalen mit Bohnen, die durch Gärung ein nussig-würziges Aroma erhalten. Manchmal gab es auf den Reis auch noch ein Stück Fisch oder ein Spiegelei.
    Die Mutter stand zwei Stunden vor allen anderen auf, richtete die Essenspackung für Schule und Büro und bereitete das Frühstück vor. Sie fing vor sechs Uhr morgens an, den Reis zu waschen. Die Frauen wenden in Japan enorme Kraft auf, um in einer Schüssel die Stärkehülle der Körner abzuschaben. Als ich ihr erzählte, dass wir in Europa unseren Reis nicht waschen, machte sie Laute des Erstaunens. Das Ritual hatte für sie auch etwas mit der geistigen Reinheit des Essens zu tun. Für mich sah es aus wie sinnlose Arbeit.

    Ich reiste für eine private Rundreise durchs Land ab. Kenji und seine Mutter brachten mich zum Bahnhof und rieten mir, erst mal das Wichtigste einzukaufen: Bento, also eine Essenspackung. Das sind Kästchen mit Reis und Köstlichkeiten aus Fisch, Fleisch und Gemüse. Am Bahnhof von Atami gab es zehn verschiedene Sorten von Esskästchen, alle zwar mit Bild angepriesen, doch nur in Zeichensprache beschriftet. Ich nahm eins für 850 Yen und besorgte mir eine Reservierungskarte bis Kioto.

    Kenji und Matsubara-san durften mich nur bis zur Fahrkartensperre am Eingang des Bahnhofs begleiten. Ich zeigte dem Mann meinen Touristenpass und ließ die Gastfamilie hinter mir. Als ich den Gang des Bahnhofs hinabging, freute ich mich, endlich selbstständig ins wahre Japan entlassen zu sein.
    Bisher kam mir das Land ganz einfach vor. Ich verstand gar nicht, warum einige Leute es schwierig fanden. War doch eigentlich alles glasklar hier.
    Zehn Minuten später saß ich im falschen Zug.
    Kenji hatte mir eingeschärft, mich am Bahnsteig an der richtigen Markierung anzustellen. »Das ist hier anders als bei euch in Amerika … äh … Deutschland. Die Züge halten genau da, wo auch die Türen der Wagen auf dem Bahnsteig angezeigt sind. Da steht man dann in einer Reihe zum Einsteigen an, auch wenn man eine Reservierung hat.«
    Oben hörte ich einen Zug rauschen. Ich wusste, in welcher Richtung Tokio lag, also musste es nach Kioto von dem gegenüberliegenden Bahnsteig des Schnellzugbahnhofs abgehen. Als ich mit der Rolltreppe oben ankam, warnten bereits Durchsagen und Warnsirenen, dass der Shinkansen weiterfahren wollte. Ich konzentrierte mich total darauf, in den korrekten Wagen einzusteigen. Auf meiner Reservierungskarte waren Wagen- und Platznummer aufgedruckt: 15. Wagen 15, bis da war es noch ein Stück. Ich hetzte den Bahnsteig entlang bis zu der Stelle, wo sich die Türen des Wagens gerade schlossen, und sprang in den Zug. Rote Lampen blitzten, ein Warnklingeln ertönte, die Tore an der Bahnsteigabsperrung schlossen sich. Zwei Sekunden vor der offiziellen Abfahrzeit ruckte der Wagen an.

    Im Zug packte ich meine Essensbox aus und
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