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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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mit Kenji, dem Sohn der Familie Matsubara, am Küchentisch. Da kannte ich ihn gerade mal seit zwei Tagen. Er war ein Jahr jünger als ich. Die Gastmutter, Matsubara-san, hatte große blaue Weintrauben auf den Tisch gestellt.
    Ich nahm mir eine Traube und aß sie. Kenji starrte mich fasziniert an. Dann rief er plötzlich: »Hey, Mama, komm mal her, guck mal!«, und zu mir gewandt: »Iss noch mal eine!«
    Ich runzelte die Stirn und sah ihn an. Inzwischen war die Mutter dazugetreten. »Was soll das, Kenji?«
    »Iss!«, fordert mich Kenji auf.
    Zögernd steckte ich eine Traube in den Mund und aß sie. Kenji guckte fasziniert. Die Mutter zog eine Augenbraue hoch und schalt dann ihren Sohn: »Nun, das ist zwar bemerkenswert, aber so außergewöhnlich ist es nun auch wieder nicht. Andere Länder, andere Sitten. Wir müssen da tolerant sein.« Sie ging zu ihrer Hausarbeit zurück. »Kenji? Was ist seltsam an meiner Art, Trauben zu essen?«
    »Du isst die Schale mit.«

    Neben die Trauben hatte die Mutter einen kleinen Teller auf den Tisch gestellt. Kenji hatte seine Trauben ausgezutzelt und die Schalen auf das Tellerchen gelegt. Er glättete sie sogar und faltete sie ordentlich zu einem Dreieck, bevor er sie auf dem Abfallteller auffächerte. Erst später verstand ich, dass sich das so gehört. Andere Japaner machen das auch so.
    »Ihr esst die Trauben ohne Schale?«
    »Ja, klar. Wir essen auch die Schalen von Mangos, Kiwis oder Melonen nicht.«
    »Aber die Schalen dieser Früchte kann man gar nicht essen.«
    Jetzt kamen sie zum ersten Mal, die Geräusche des Erstaunens. »Hnnnnnnn«, langgezogen, etwas in die Höhe gehend. Er wollte damit wohl sagen: »Die von Trauben auch nicht!«, oder »Wenn man schon Traubenschalen essen kann, bin ich mir wegen der Mangos auch nicht mehr so sicher«, aber sagte es erst mal nicht. Schlagfertigkeit gehört in Japan nicht zum guten Ton. Sie wirkt nicht harmonisch.
    »In der Schale von Trauben sind doch die meisten Vitamine und der meiste Geschmack«, sagte ich. »Ihr werft ja das Beste an der Frucht weg«, belehrte ich Japan.
    Kenji machte erneut langgezogene Laute des Erstaunens. Einfach zu widersprechen, das wäre zu direkt. Doch dann sagte er mit ganz harmlosem Blick: »Ich glaube, Trauben sind in Japan außen mit irgendwas behandelt, das nicht so gut für den Körper ist.«
    Hatten die Trauben nicht von Anfang an etwas chemisch geschmeckt? Irgendwie sahen sie plötzlich auch nicht mehr so lecker aus.

    Das traditionelle Holzhaus der Matsubaras war über eine Steintreppe zwischen moosbewachsenen Natursteinen mit einem Gewirr alter Straßen und Gassen verbunden, die sich von der Pazifikküste den Berg hinaufzogen. In den Wäldern der Umgebung befanden sich viele kleine Heiligtümer. Kenjis Mutter schickte uns zu einem der nahen Schreine, damit wir dort beteten. Am Schrein zeigte mir Kenji, wie die Japaner mit den Göttern sprechen. Sie reinigen Hände und Mund erst rituell mit Quellwasser. Vor der heiligen Halle werfen sie Geld in den Kasten. Münzen mit einem Loch drin bringen besonders viel Glück, also das Fünf- und das Fünfzig-Yen-Stück. Dann klatschen sie in die Hände, bringen still die Bitte an den Gott vor, verbeugen sich und treten ab. Die Verbeugung scheint der wichtigste Punkt zu sein.
    Kenji holte ein Paket von Gatsby-Tüchern aus der Tasche. Ich hatte ihn schon damit beobachtet. Es schien so eine Art größere Erfrischungstücher zu sein. »Damit wischt man sich das Gesicht ab«, sagte er und tat’s. »Sie halten die Haut frisch und rein und beugen nebenbei Pickeln vor.«
    Mir war in den zwei Tagen in Japan bereits aufgefallen, dass junge japanische Männer ziemlich viel Wert auf ihr Äußeres legen. Kenji verbrachte viel Zeit damit, seine Frisur zu stylen. Wenn seine Freunde vorbeikamen, trugen sie die Haare ebenfalls aufwändig zurechtgemacht. Und wo ich ein einfaches blaues T-Shirt trug, hatte er eines mit Goldaufdruck und Stickereien an.
    »Wofür hast du jetzt gebetet?«, fragte ich.
    »Ist doch klar. Für Erfolg bei der Prüfung! Deshalb hat mich meine Mutter ja in Wirklichkeit hergeschickt«, sagte
Kenji. »Sie selbst kommt vermutlich jeden Tag einmal hier vorbei und fleht um hohe Punktzahlen für mich.«

    Mit Kenji fuhr ich auch die anderthalb Stunden im Regionalzug nach Tokio. Wir bewunderten im Kaufhaus Pfirsiche, die pro Stück 70 D-Mark kosteten. Wir blickten in Ikebukuro vom Wolkenkratzer Sunshine 77 über die Stadt. Im Stadtteil Shibuya beglotzten wir die
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