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Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Tokio Total - Mein Leben als Langnase

Titel: Tokio Total - Mein Leben als Langnase
Autoren: Finn Mayer-Kuckuk
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außerirdischen Gothic-Jugendlichen. In Japan wird es schnell dunkel, und plötzlich fanden wir uns in einer völlig veränderten Ausgehwelt zwischen rot und gelb blitzenden Leuchtreklamen wieder. Kenji steuerte einen preiswerten Yakiniku-Laden an, wo die Gäste dünne Fleischscheiben am Tisch selber grillen.
    »Was trinkst du?«, fragte Kenji.
    »Bier«, sagte ich.
    Kenji zögerte einen Moment, winkte der Kellnerin, zögerte noch mal und bestellte dann zwei Bier. Wir stießen an. Aßen und tranken. Bestellten noch ein Bier. Aßen zu Ende und bestellten vor dem Heimweg noch eine dritte Runde.
    »Hoffentlich gibt es keine Razzia«, sagte Kenji plötzlich scherzend, aber nicht ganz unernst.
    »Wieso?«, fragte ich und setzte das Glas an die Lippen
    »Bier ist in Japan erst ab 20 erlaubt. Ich bin noch 19. Aber hier in Shibuya stört das die Leute nicht so.«
    Vor Erstaunen prustete ich in meinen Bierschaum.
    »Das ist nicht dein Ernst? Bier? Ab 20?«
    »So wie Zigaretten auch. Mein Trinken hier war die ganze Zeit illegal. Alkohol ist in Deutschland vermutlich schon ab 18 erlaubt?«

    »Ab 16, Kenji, ab 16. Und wir haben uns auch vorher schon auf Partys abgeschossen.«
    Was machte Kenji, als er das hörte? Laute des Erstaunens.

    Kenji hatte in Ikebukuro allerdings nicht zum ersten Mal Alkohol getrunken. Die Matsubaras kauften sogar für mich als Deutschen besonders viel Bier ein, und Mutter Matsubara versammelte mir zu Ehren weitere Familienmitglieder zum Grillen auf der Terrasse. Es kamen die Oma aus dem Nachbarort und Kenjis ältere Schwester, die als Büroangestellte in Tokio arbeitete. »Sie will dich unbedingt angucken, hat sie gesagt«, verriet mir Kenji.
    Japaner grillen zu Hause entweder auf einem kleinen, schweren Tongrill oder auf einer heißen Eisenplatte. Heute Abend baute Vater Okayama die elektrische Eisenplatte auf dem Gartentisch auf.
    An diesem Abend war das Wetter schön, die Luft glasklar. Vor uns erstreckte sich die Weite des Pazifiks. Es sah aus, als könnten wir bis nach Amerika hinüberblicken, wenn die Erde nicht gekrümmt wäre. Zum ersten Mal konnte ich die lange Reihe von Inseln erkennen, die von Tokio aus viele hundert Seemeilen ins Meer hinausreichen.
    Die Familie wohnte in einem traditionellen japanischen Holzhaus: einstöckig, auf Steinen gelagert ohne Keller, die meisten Zimmer mit Tatamimatten ausgelegt. Den echten alten Eingang benutzten die Matsubaras nicht mehr - alle nahmen immer die Seitentür zur Küche. Deshalb war dort auch eine Eingangsstufe angebaut: eine Fläche zum Ausziehen der Schuhe. Ins Haus musste der Gast eine Stufe hochsteigen, und dann stand er in der Küche. Links ging ein Gang ab, den papierbespannte
Schiebetüren von den Räumen dahinter trennten, alle mit Tatami ausgelegt. Eine lange Front von Glasscheiben ging nach vorne hinaus und öffnete den Blick über den Pazifik. Von hier aus war ich in den kleinen Garten mit knorrig-krummen Zedern hinabgestiegen. Ich trank mit Herrn Matsubara Bier, als die Oma den Pfad entlangkam.
    »Obâ-san, das ist unser Gast«, sagte Herr Matsubara. Er sagte es besonders deutlich, damit die Obâ-san es auch verstand.
    »Ach so«, sagte sie.
    »Aus Deutschland!«
    »Ah. Ah. Ich war auch schon in Deutschland!«, verkündete die Oma. »Vor vielen Jahren. Da gab es viele Blumen.«
    Ich zog die Augenbrauen hoch.
    »Aber Obâ-san. Das war doch Indien«, sagte der Vater.
    »Jaja, Indien, sagte ich doch«, erwiderte die Oma.
    »Ich bin aus Deutschland in Europa«, stellte ich mit meinem begrenzten Japanisch klar.
    »Er kann ja sprechen«, wunderte sich die Oma. »Von Deutschland ist doch jetzt nicht mehr Bonn die Hauptstadt …«
    So viel hatte ich verstanden. »Ja, genau!«
    »… sondern München, wo auch Schloss Neuschwanstein liegt«, fuhr die Oma fort.
    »Aber Obâ-san …«, sagte ihr Sohn. Er erklärte ihr etwas Längeres auf Japanisch, was sie mit einem irritierten und ungläubigen Blick quittierte, als wollte sie sagen: Lass den mal nur wieder reden. Sie kehrte stattdessen zum Wesentlichen zurück. Herr Matsubara übersetzte ihre Frage: »Bist du verheiratet?«

    Als ich verneinte, schaute sie missbilligend.
    Kenjis ältere Schwester beschäftigte sich unterdessen mit dem, was japanische Frauen als ihre Pflicht und Berufung ansehen: emsige Hausarbeit. Sie und ihre Mutter schnitten in der Küche Fleisch und Gemüse. Den Möhrenscheiben gaben sie die Form von hauchfeinen, geometrisch deckungsgleichen Rechtecken. Die Pilze erhielten auf
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