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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde
Autoren: Tess Gerritsen
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steht.«
    »Autorität?«, fragte Maura. »Macht?«
    »Seltsam. Ich hätte eher auf so etwas wie Glaube, Liebe und Hoffnung getippt.«
    »Nun ja, ich war eben auf einer katholischen Oberschule.«
    »Sie?« Rizzoli lachte ungläubig auf. »Das hätte ich jetzt nicht gedacht.«
    Maura sog die eisige Luft tief in ihre Lungen und blickte zu dem Kreuz auf, während sie an ihre Jahre auf der Holy Innocents Academy zurückdachte. Und an die erlesenen Qualen, die ihre Geschichtslehrerin Schwester Magdalene ihr hatte zuteil werden lassen. Es waren keine körperlichen, sondern seelische Qualen gewesen, die diese Frau denjenigen Mädchen zugefügt hatte, die in ihren Augen – und ihr Blick war untrüglich – ein Übermaß an Selbstvertrauen an den Tag legten. Im Alter von vierzehn Jahren waren Mauras beste Freunde nicht Menschen, sondern Bücher gewesen. Sie hatte den Unterrichtsstoff stets mühelos bewältigt und war auch noch stolz darauf gewesen. Damit hatte sie sich den Zorn von Schwester Magdalene zugezogen. In Mauras eigenem Interesse musste dieser sündhafte Stolz in ihrem Herzen unterdrückt und durch christliche Demut ersetzt werden. Schwester Magdalene hatte sich mit grimmiger Begeisterung dieser Aufgabe gewidmet. Sie hatte Maura vor der ganzen Klasse lächerlich gemacht, hatte ihre tadellosen Aufsätze mit bissigen Randbemerkungen versehen und jedes Mal vernehmlich geseufzt, wenn Maura die Hand gehoben hatte, um eine Frage zu stellen. Am Ende war Maura nur resigniertes Schweigen geblieben.
    »Sie haben mich immer ziemlich eingeschüchtert«, sagte Maura. »Die Nonnen, meine ich.«
    »Ich dachte, Sie hätten vor gar nichts Angst, Doc.«
    »Ich habe vor vielen Dingen Angst.«
    Rizzoli lachte. »Bloß nicht vor Leichen, wie?«
    »Es gibt auf dieser Welt vieles, wovor man sich mehr fürchten muss als vor Leichen.«
    Sie ließen Camille auf ihrem Lager aus kaltem Stein zurück und gingen an der Wand der Kapelle entlang zurück zum Eingangsbereich, zu der blutbefleckten Stelle am Boden, wo Schwester Ursula noch lebend gefunden worden war. Der Fotograf hatte seine Arbeit beendet und war gegangen; jetzt waren Maura und Rizzoli allein in der Kapelle, zwei Frauen, deren Stimmen von den kahlen Wänden widerhallten. Maura hatte immer geglaubt, ein Gotteshaus sei ein universeller Zufluchtsort, wo selbst die Seele des Ungläubigen Trost suchen und finden konnte. Aber für sie gab es keinen Trost an diesem kalten Ort, einem Ort des Grauens, wo der Tod blutige Ernte gehalten hatte, ohne jede Rücksicht auf die Symbole des Heiligen.
    »Sie haben Schwester Ursula genau hier gefunden«, sagte Rizzoli. »Sie lag mit dem Kopf zum Altar, die Füße zeigten zur Tür.«
    Als hätte sie sich vor dem Kruzifix in den Staub geworfen.
    »Dieser Kerl ist eine verdammte Bestie«, stieß Rizzoli wütend hervor, ihre Worte abgehackt und scharf wie Eissplitter. »Wir haben es mit einem Monster zu tun, einem Verrückten. Oder mit irgendeinem bekifften Arschloch, das nur irgendwas klauen wollte.«
    »Wir wissen nicht sicher, ob es ein Mann war.« Rizzoli machte eine ungehaltene Geste in Richtung von Schwester Camilles Leiche. »Glauben Sie etwa, das ist das Werk einer Frau?«
    »Eine Frau kann sehr wohl mit einem Hammer zuschlagen. Und einem Menschen den Schädel einschlagen.«
    »Wir haben einen Fußabdruck gefunden. Da, ungefähr in der Mitte des Gangs. Sah mir ganz nach einem Männerschuh aus, schätzungsweise Größe 45.«
    »Einer der Sanitäter vielleicht?«
    »Nein, die Abdrücke der Jungs vom Rettungsdienst können Sie hier vorne an der Tür sehen. Der im Mittelgang sieht anders aus. Der ist von ihm. «
    Der auffrischende Wind ließ die Fensterscheiben klirren, und die Tür knarrte, als ob unsichtbare Hände daran rüttelten. Rizzolis Lippen waren blau vor Kälte, ihr Gesicht war leichenblass, doch immer noch schien es sie nicht zu drängen, sich in einen wärmeren Raum zurückzuziehen. Das war typisch Rizzoli – viel zu stur, als dass sie als Erste die Segel gestrichen hätte. Zu stur, um zuzugeben, dass sie am Ende ihrer Kräfte war.
    Maura blickte auf den Steinboden herab, auf dem Schwester Ursula gelegen hatte, und sie konnte Rizzolis intuitiver Einschätzung nicht widersprechen, dass dieser Überfall die Tat eines Geisteskranken war. Es war der schiere Wahnsinn, der aus diesen Blutflecken sprach. Aus den Schlägen, die Schwester Camilles Schädel zertrümmert hatten. Entweder Wahnsinn oder abgrundtiefe Bosheit.
    Ein eiskalter Schauer
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