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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde
Autoren: Tess Gerritsen
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zerbrechliche Frau auf die Schreibtischplatte hinabziehen. Doch die Augen, die Maura durch die dicken Gläser musterten, waren hellwach und intelligent.
    Rizzolis Partner Barry Frost stellte sofort seine Kaffeetasse ab und erhob sich höflich von seinem Platz. Frost war die Verkörperung des netten Jungen von nebenan; der einzige Cop im ganzen Morddezernat, der es fertig brachte, einen Vernehmungsraum zu betreten und den Verdächtigen glauben zu machen, sein bester Freund sei gerade zu Besuch gekommen. Er war zudem der Einzige im Team, der absolut kein Problem damit zu haben schien, mit der launischen Rizzoli zusammenzuarbeiten, die jetzt gerade neidisch seine Kaffeetasse beäugte. Es war ihr keineswegs entgangen, dass ihr Partner hier in diesem geheizten Zimmer gesessen und Kaffee geschlürft hatte, während sie in der Kapelle gefroren hatte.
    »Ehrwürdige Mutter«, sagte Frost, »darf ich Ihnen Dr. Isles vom Rechtsmedizinischen Institut vorstellen. Doc, das ist Mutter Mary Clement.«
    Maura ergriff die Hand der Äbtissin. Sie fühlte sich gichtig an, die Haut wie trockenes Papier über bloßen Knochen. Während sie sie schüttelte, bemerkte Maura ein Stück beigefarbenen Stoffs, das unter dem schwarzen Ärmel hervorlugte. Das war also der Trick, mit dem die Nonnen es in diesen schlecht geheizten Räumen aushielten – unter ihrer wollenen Tracht trug die Äbtissin lange Unterwäsche.
    Verzerrte blaue Augen fixierten sie durch die dicken Gläser.
    »Vom Rechtsmedizinischen Institut? Heißt das, Sie sind Ärztin?«
    »Ja. Ich bin Pathologin.«
    »Sie untersuchen also Todesursachen?«
    »Richtig.«
    Die Äbtissin hielt inne, als müsste sie all ihren Mut zusammennehmen, um die nächste Frage zu stellen. »Sind Sie schon in der Kapelle gewesen? Haben Sie sie gesehen ...«
    Maura nickte. Sie wollte der Frage zuvorkommen, von der sie schon wusste, dass sie kommen würde, doch sie brachte es einfach nicht fertig, in Gegenwart einer Nonne ihre guten Manieren über Bord zu werfen. Auch mit ihren vierzig Jahren konnte der Anblick einer schwarzen Tracht sie immer noch nervös machen.
    »Hat sie ...« Mary Clements Stimme erstarb zu einem Flüstern. »Hat Schwester Camille sehr leiden müssen?«
    »Leider kann ich Ihre Frage noch nicht beantworten. Dazu muss ich erst die Ergebnisse der ... Untersuchungen abwarten.« Sie hatte Autopsie sagen wollen, doch das Wort schien zu kalt, zu technisch für Mary Clements behütete Ohren. Und es widerstrebte ihr auch, die furchtbare Wahrheit zu enthüllen: dass sie nämlich eine ziemlich präzise Vorstellung davon hatte, was mit Camille passiert war. Jemand hatte der jungen Frau in der Kapelle aufgelauert, hatte ihr nachgesetzt, als sie in Panik durch den Mittelgang auf den Altar zugelaufen war, und ihr dabei den weißen Novizinnenschleier vom Kopf gerissen. Dann waren seine Schläge auf ihren Schädel niedergefahren, bis das Blut auf die Bänke gespritzt war, doch sie war noch ein paar Schritte weiter getaumelt, bis sie schließlich gestrauchelt und vor ihm auf die Knie gesunken war. Aber selbst jetzt hatte der Täter noch nicht genug gehabt. Immer und immer wieder hatte er auf sie eingeschlagen und ihre Schädeldecke zertrümmert wie eine Eierschale.
    Maura wich Mary Clements Blick aus und hob die Augen für einen kurzen Moment zu dem Holzkreuz, das hinter dem Schreibtisch an der Wand hing, doch auch der Anblick dieses eindrucksvollen Symbols vermochte ihr keinen Trost zu spenden.
    Rizzoli brach das Schweigen. »Wir haben die Schlafzimmer noch nicht gesehen.« Wie üblich war sie die Sachlichkeit in Person, ganz auf den nächsten notwendigen Schritt konzentriert.
    Mary Clement blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen gestiegen waren. »Ja. Ich wollte eben Detective Frost nach oben bringen, um ihm die Zimmer der beiden zu zeigen.«
    Rizzoli nickte. »Also gut, wir wären dann so weit.«
    Die Äbtissin führte sie über eine unbeleuchtete Treppe hinauf ins Obergeschoss. Nur ein schwacher Schein von Tageslicht sickerte durch die Buntglasfenster herein. An sonnigen Tagen schmückte wohl eine bunte Farbpalette die Wände des Treppenhauses, doch an diesem düsteren Wintermorgen waren lediglich verschiedene Schattierungen von Grau zu sehen.
    »Die meisten Zimmer im oberen Stock stehen jetzt leer. Im Laufe der Jahre mussten immer mehr Schwestern ins Erdgeschoss umziehen«, erklärte Mary Clement, während sie langsam Stufe um Stufe erklomm und sich dabei an das Geländer klammerte, als
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