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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde
Autoren: Tess Gerritsen
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allerdings ziemlich kalt hier.«
    Rizzoli lachte tonlos auf und stieß dabei eine weiße Dampfwolke aus. »Was Sie nicht sagen.«
    »Knapp über null Grad, schätze ich. Das verzögert normalerweise das Eintreten der Totenstarre.«
    »Wie lange?«
    »Fast unbegrenzt.«
    »Was ist mit ihrem Gesicht? Mit den Totenflecken?«
    »Die können schon nach einer halben Stunde auftreten. Das hilft uns nicht sehr viel weiter bei der Bestimmung des Todeszeitpunkts.«
    Maura öffnete ihren Koffer und griff nach dem chemischen Thermometer, um die Umgebungstemperatur zu messen. Mit einem Blick auf die diversen Schichten von Kleidung, in die das Opfer gehüllt war, beschloss sie, die Rektaltemperatur erst zu messen, nachdem die Tote in das Leichenschauhaus gebracht worden war. Das Licht war schlecht; es würde ihr nicht erlauben, mit ausreichender Sicherheit eine Vergewaltigung auszuschließen, ehe sie das Thermometer einführte. Beim Versuch, den leblosen Körper eines Opfers zu entkleiden, konnte es passieren, dass man wertvolle Mikrospuren vernichtete. Stattdessen nahm sie nun eine Spritze heraus, um Glaskörperflüssigkeit für die Bestimmung der postmortalen Kaliumkonzentration zu entnehmen. Das war eine Methode, den Todeszeitpunkt näher einzugrenzen.
    »Was können Sie mir über das andere Opfer sagen?«, fragte Maura, während sie die Nadel in den linken Augapfel senkte und die Glaskörperflüssigkeit langsam in das Röhrchen zog.
    Rizzoli stöhnte angesichts der Prozedur angewidert auf und wandte sich ab. »Bei dem Opfer, das an der Tür gefunden wurde, handelt es sich um Schwester Ursula Rowland, achtundsechzig. Muss ganz schön zäh sein, die Alte. Angeblich hat sie die Arme bewegt, als sie sie in den Rettungswagen geschoben haben. Sie sind gerade mit ihr weggefahren, als Frost und ich hier eintrafen.«
    »Wie schwer war sie verletzt?«
    »Ich habe sie selbst nicht gesehen. Das Letzte, was wir vom St.-Francis-Hospital gehört haben, war, dass sie im OP sei. Multiple Schädelfrakturen und Gehirnblutungen.«
    »Wie bei diesem Opfer hier.«
    »Genau. Wie bei Camille.« Wieder schwang Zorn in Rizzolis Stimme.
    Maura richtete sich auf und schlang fröstelnd die Arme um den Leib. Ihre Hosenbeine hatten sich mit dem Wasser aus dem durchtränkten Saum ihres Mantels vollgesogen, und sie hatte das Gefühl, dass ihre Waden in Eisblöcken steckten. Am Telefon hatte man ihr gesagt, der Tatort sei in einem geschlossenen Raum, also hatte sie Schal und Handschuhe im Wagen gelassen. Doch in dieser ungeheizten Kapelle war es kaum wärmer als draußen auf dem mit Schnee und Eis bedeckten Innenhof. Sie steckte die Hände in die Manteltaschen und fragte sich, wie Rizzoli, die auch weder Schal noch Handschuhe trug, es so lange in dieser Kälte aushielt. Rizzoli schien eine eigene Wärmequelle in sich zu tragen – das Fieber ihrer Wut und Empörung; und obwohl ihre Lippen bereits blau anliefen, schien sie es nicht eilig zu haben, einen wärmeren Raum aufzusuchen.
    »Warum ist es hier eigentlich so kalt?«, fragte Maura. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ihnen Vergnügen macht, hier Messen zu feiern.«
    »Das tun sie auch nicht. Dieser Teil des Gebäudes wird im Winter gar nicht genutzt – es wäre zu teuer, ihn zu heizen. Und sie sind ja auch nur noch eine Hand voll. Für die Messe benutzen sie eine kleine Kapelle, die zum Wohntrakt gehört.«
    Maura musste an die drei Nonnen denken, die sie durch die Fensterscheibe gesehen hatte, alle drei nicht mehr die Jüngsten. Diese Schwestern waren wie heruntergebrannte Kerzen, die eine nach der anderen erloschen.
    »Wenn die Kapelle nicht genutzt wird«, fragte sie, »was haben die Opfer dann hier getan?«
    Rizzoli seufzte und ließ dabei eine Dampfwolke entweichen, die einem fauchenden Drachen gut angestanden hätte. »Das weiß kein Mensch. Die Äbtissin sagt, sie habe Ursula und Camille zuletzt gestern Abend gegen neun Uhr beim Gebet gesehen. Als sie nicht zum Morgengebet erschienen, machten die Schwestern sich auf die Suche nach ihnen. Sie hätten nie damit gerechnet, sie hier zu finden.«
    »All diese Schläge auf den Kopf. Das sieht nach blinder Wut aus.«
    »Aber sehen Sie sich das Gesicht an«, sagte Rizzoli und deutete auf Camille. »Er hat sie nicht ins Gesicht geschlagen. Das Gesicht hat er verschont. Das deutet doch auf ein eher unpersönliches Motiv hin. Als ob er es nicht auf sie selbst abgesehen hätte, sondern auf das, was sie darstellt. Das, wofür sie
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