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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde
Autoren: Tess Gerritsen
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dem ersten eisigen Windstoß zu schützen. Als sie den Fuß auf den Boden setzte, rutschte sie aus und konnte den Sturz nur noch vermeiden, indem sie sich krampfhaft an der Autotür festhielt. Als sie sich hochzog, spürte sie, wie ihr eiskaltes Wasser über die Waden rann – der Saum ihres Mantels war in den Schneematsch geraten.
    Einige Sekunden lang stand sie einfach nur reglos und erschrocken da, während der Schneeregen ihr ins Gesicht peitschte. Es war alles so schnell gegangen.
    Ihr Blick fiel auf den Streifenwagen und den Beamten, der darin saß. Sie sah, dass er sie beobachtete. Gewiss hatte er auch ihren Ausrutscher mitbekommen. In ihrem Stolz verletzt, schnappte sie sich ihren Koffer vom Vordersitz, schlug die Tür zu und schritt unter Aufbietung ihrer ganzen Würde über die vereiste Straße auf das Haus zu.
    »Alles in Ordnung, Doc?«, rief ihr der Streifenpolizist durch das offene Wagenfenster zu. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn er sich nicht so besorgt gezeigt hätte.
    »Ja, alles klar.«
    »Mit den Schuhen müssen Sie wirklich aufpassen. Im Hof ist es noch glatter.«
    »Wo ist Detective Rizzoli?«
    »Sie sind alle in der Kapelle.«
    »Und wo finde ich die?«
    »Sie können sie nicht verfehlen. Es ist die Tür mit dem großen Kreuz.«
    Sie ging weiter bis zum Tor, fand es jedoch verschlossen. An der Mauer war eine eiserne Glocke befestigt. Sie zog an dem Seil, und der altertümliche Klang des Läutens verhallte im Geriesel des Eisregens. Direkt unter der Glocke war eine Bronzetafel befestigt, deren Inschrift von einer braunen Efeuranke teilweise verdeckt wurde.
    GRAYSTONES ABBEY ORDEN DER SCHWESTERN UNSERER LIEBEN FRAU VOM HIMMLISCHEN LICHT
    » Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Damm bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende. «
    Auf der anderen Seite des Tores tauchte plötzlich eine ganz in Schwarz gekleidete Frau auf. Sie hatte sich so lautlos genähert, dass Maura erschrocken zusammenzuckte, als sie das Gesicht bemerkte, das sie durch die Gitterstäbe anblickte. Es war ein uraltes Gesicht, so zerfurcht und zerklüftet, dass es in sich zusammenzufallen schien; doch die Augen waren hell und wach wie die eines Vogels. Die Nonne sprach kein Wort, sondern sah Maura nur fragend an.
    »Ich bin Dr. Isles vom Rechtsmedizinischen Institut«, sagte Maura. »Die Polizei hat mich herbestellt.«
    Das Tor tat sich quietschend auf.
    Maura trat in den Hof. »Ich möchte zu Detective Rizzoli. Ich glaube, sie ist in der Kapelle.«
    Die Nonne zeigte auf die gegenüberliegende Seite des Innenhofs; dann wandte sie sich ab und überließ es Maura, den Weg zur Kapelle zu finden. Sie selbst verschwand hinter der nächsten Tür.
    Schneeflocken wirbelten zwischen den Nadeln des Eisregens umher und umtanzten wie Schmetterlinge ihre schwerfälligeren Vettern. Der kürzeste Weg wäre quer über den Hof gewesen, doch das Pflaster war mit einer Eisschicht überzogen, und Maura hatte schon erfahren müssen, wie ungeeignet ihre profillosen Sohlen für diese Witterung waren. Also zog sie es vor, sich an den überdachten Gang zu halten, der um den Innenhof herum führte. Hier war sie zwar vor dem Eisregen geschützt, doch der offene Bogengang bot kaum Schutz vor dem Wind, der durch ihren Mantel drang. Die Kälte erinnerte sie wieder einmal daran, wie unbarmherzig der Dezember in Boston sein konnte. Sie hatte den größten Teil ihres bisherigen Lebens in San Francisco verbracht, wo der Anblick einer Schneeflocke ein seltenes Vergnügen war und nicht etwa eine Qual – wie diese spitzen Nadeln, die durch die Arkaden wehten und ihr ins Gesicht peitschten. Sie hüllte sich fester in den Mantel und drückte sich dicht an die Hauswand mit den dunklen Fenstern. Von draußen drang das leise Rauschen des Verkehrs auf dem Jamaica Riverway an ihr Ohr. Bis auf die alte Nonne, die sie eingelassen hatte, schien das Kloster verlassen.
    Umso mehr erschrak sie, als sie plötzlich in drei Gesichter blickte, die sie von einem Fenster aus anstarrten. Die Nonnen standen schweigend und reglos da, wie dunkel gewandete Geister hinter Glas, und beobachteten die Fremde, die in ihren stillen Zufluchtsort eingedrungen war. Die drei Augenpaare folgten ihr in einer einzigen Bewegung, als sie an dem Fenster vorüberging.
    Der Eingang zur Kapelle war mit gelbem Absperrband umspannt, das in der Mitte durchhing und bereits mit einer Eiskruste überzogen war. Sie hob es an, schlüpfte darunter hindurch und schob die schwere
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