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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde
Autoren: Tess Gerritsen
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Prolog
    Andhra Pradesh
Indien
    Der Mann weigerte sich strikt, ihn auch nur einen Meter weiter zu fahren. Kurz nachdem sie die verlassene Octagon-Fabrik passiert hatten, war die Teerstraße in einen halb zugewucherten Feldweg übergegangen. Jetzt, ein oder zwei Kilometer weiter, klagte der Fahrer, dass das Gestrüpp ihm den Lack zerkratze und der Wagen in den Schlammlöchern, die sich nach den jüngsten Regenfällen gebildet hatten, stecken zu bleiben drohe. Und dann? Dann würden sie hier festsitzen, hundertfünfzig Kilometer von Hyderabad entfernt. Howard Redfield ließ die lange Litanei der Einwände über sich ergehen und wusste doch, dass das alles nur Vorwände waren, die von dem wahren Grund für die Weigerung des Fahrers ablenken sollten. Niemand gibt gerne zu, dass er Angst hat.
    Redfield hatte keine andere Wahl. Er würde zu Fuß weitergehen müssen.
    Er beugte sich vor, um dem Fahrer ins Ohr zu sprechen, und ranziger Schweißgeruch stieg ihm in die Nase. Aus dem mit klappernden Holzperlen behängten Rückspiegel starrten die dunklen Augen des Fahrers ihn an.
    »Sie warten doch hier auf mich, nicht wahr?«, fragte Redfield. »Bleiben Sie einfach auf der Straße stehen.«
    »Wie lange?«
    »Eine Stunde vielleicht. So lange, wie es eben dauert.«
    »Ich sage Ihnen doch, da gibt es nichts zu sehen. Es ist niemand mehr dort.«
    »Warten Sie einfach hier, okay? Warten Sie. Ich zahle Ihnen das Doppelte, wenn wir wieder in der Stadt sind.«
    Redfield schnappte sich seinen Rucksack, stieg aus und tauchte augenblicklich in ein Meer von Feuchtigkeit ein. Er hatte keinen Rucksack mehr getragen, seit er als junger, mittelloser Collegestudent durch Europa getrampt war, und er kam sich ein wenig komisch vor, als er sich ihn nun, als einundfünfzigjähriger Mann, über die hängenden Schultern streifte. Aber er würde den Teufel tun, in dieser Waschküche von einem Land auch nur einen Schritt ohne seine Grundausstattung zu machen – eine Flasche mit abgekochtem Trinkwasser, Insektenschutzmittel, Sonnencreme und Durchfallmedizin. Und seine Kamera – die konnte er unmöglich zurücklassen.
    Schwitzend stand er in der Nachmittagssonne, blickte zum Himmel und dachte: Na großartig – die Sonne geht bald unter, und in der Dämmerung kommen die Moskitos aus ihren Löchern. Hier ist euer Abendessen, ihr kleinen Mistviecher.
    Er marschierte los. Der Weg war von hohem Gras überwuchert; er stolperte über eine Furche und sank mit seinen Trekkingschuhen knöcheltief im Matsch ein. Offenbar war hier schon seit Monaten kein Fahrzeug mehr entlanggekommen, und die Natur hatte sich ihr Territorium rasch zurückerobert. Redfield blieb stehen, rang keuchend nach Luft, schlug nach Insekten. Als er sich umdrehte, war von dem Wagen nichts mehr zu sehen. Das beunruhigte ihn. Konnte er sich darauf verlassen, dass der Fahrer auf ihn warten würde? Der Mann hatte ihn nur widerstrebend so weit gefahren, und mit jedem Kilometer, den sie auf der immer holpriger werdenden Straße zurückgelegt hatten, war er nervöser geworden. Da draußen seien böse Menschen, hatte der Fahrer gesagt; schreckliche Dinge seien in dieser Gegend passiert. Sie könnten beide verschwinden, und wer würde sich dann die Mühe machen, nach ihnen zu suchen?
    Redfield kämpfte sich weiter vor.
    Die feuchte Luft schien immer dichter zu werden. Er konnte das Wasser in der Flasche schwappen hören, und schon jetzt quälte ihn der Durst, doch er wollte keine Pause machen. Es würde nur noch eine gute Stunde hell sein, und er hatte keine Zeit zu verlieren. Im Gras summten die Insekten, über ihm in den Kronen der Bäume schrieen Vögel – das nahm er jedenfalls an, auch wenn die Geräusche nichts mit irgendwelchen Vogelstimmen gemein hatten, die er kannte. Alles an diesem Land kam ihm fremd und unwirklich vor, und in einer albtraumhaften Trance setzte er einen Fuß vor den anderen, während der Schweiß ihm die Brust hinabrann. Mit jedem Schritt schien sein Atem schneller zu gehen. Laut Karte konnten es nicht mehr als zweieinhalb Kilometer sein, doch der Marsch schien sich endlos hinzuziehen, und das Insektenschutzmittel, mit dem er sich erneut eingerieben hatte, schien die Moskitos nicht abzuschrecken. Ihr nervöses Gesumme tönte ihm in den Ohren, und bald war sein Gesicht von juckenden Quaddeln überzogen.
    Erneut stolperte er in eine tiefe Furche und landete auf den Knien im hohen Gras. Da hockte er nun und spuckte einen Mund voll Grünzeug aus, entmutigt und erschöpft,
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