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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde
Autoren: Tess Gerritsen
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lief ihr über den Rücken. Fröstelnd richtete sie sich auf und starrte das Kruzifix an. »Mir ist schrecklich kalt«, sagte sie. »Kann man sich hier irgendwo aufwärmen? Und vielleicht eine Tasse Kaffee trinken?«
    »Sind Sie hier fertig?«
    »Ich habe gesehen, was es zu sehen gibt. Alles andere wird uns die Autopsie verraten.«

2
    Sie traten aus der Kapelle ins Freie und stiegen über das Absperrband, das sich inzwischen ganz vom Türrahmen gelöst hatte und mit einer Eisschicht überzogen am Boden lag. Der Wind wehte ihnen Schneeflocken ins Gesicht und zerrte an ihren Mänteln, als sie mit zusammengekniffenen Augen den überdachten Gang entlangstapften. Nach einer Weile traten sie durch eine Tür in eine düstere Diele, und Maura spürte einen kaum merklichen Hauch von warmer Luft an ihren vor Kälte tauben Wangen. Es roch nach Eiern und alter Farbe, vermischt mit dem muffigen Geruch einer vorsintflutlichen Heizung, die mehr Staub als Wärme auszustrahlen schien.
    Sie folgten dem Klappern von Geschirr und gingen einen schwach beleuchteten Korridor entlang, der sie zu einem in helles Neonlicht getauchten Raum führte – in dieser Umgebung ein irritierend modernes Detail. Grell und unbarmherzig schien es in die zerfurchten Gesichter der Nonnen, die an einem ramponierten Esstisch saßen. Es waren ihrer dreizehn – eine Unglückszahl. Ihre Aufmerksamkeit war von bunt geblümten Stoffquadraten, Seidenbändern und Schalen mit getrocknetem Lavendel und Rosenblättern in Anspruch genommen. Handarbeitsstunde, dachte Maura, während sie zusah, wie arthritische Hände in Schalen mit Kräutern griffen und Duftsäckchen mit Seidenbändern verschnürten. Eine der Nonnen saß zusammengesunken und schief in einem Rollstuhl. Eine Hand lag zu einer Klaue verkrampft auf der Armlehne, und eine Gesichtshälfte hing herab wie bei einer Wachsmaske, die zu nahe ans Feuer geraten ist. Die grausamen Folgen eines Schlaganfalls. Und doch war sie es, die die beiden Eindringlinge als Erste bemerkte. Sie stöhnte leise, worauf die anderen Schwestern aufblickten und Maura und Rizzoli fragend ansahen.
    Maura blickte in die verhutzelten Gesichter, schockiert über die Gebrechlichkeit, die sie darin sah. Das waren nicht die strengen Ebenbilder der Autorität, die sie von ihrer Schulzeit her kannte; nein, es waren die Gesichter verwirrter, verängstigter Frauen, die von ihr eine Erklärung für diese Tragödie erhofften. Ihr war nicht wohl in ihrer Haut; es ging ihr wie einer erwachsenen Tochter, wenn ihr zum ersten Mal klar wird, dass sie und ihre Eltern die Rollen getauscht haben.
    »Kann mir jemand sagen, wo Detective Frost ist?«, fragte Rizzoli.
    Die Frage wurde von einer gehetzt aussehenden Frau beantwortet, die soeben mit einem Tablett voller frisch gespülter Kaffeetassen aus der angrenzenden Küche gekommen war. Sie trug einen verblichenen blauen Pullover mit Fettflecken, und zwischen den Seifenblasen an ihrer linken Hand blitzte ein Ring mit einem winzigen Diamanten auf. Keine Nonne, dachte Maura, sondern die Haushaltshilfe, die dieser immer gebrechlicher werdenden Gemeinschaft zur Hand ging.
    »Er spricht noch mit der Äbtissin«, sagte die Frau. Sie deutete mit einem Kopfnicken zur Tür, und eine Strähne ihres braunen Haars fiel ihr in die von Sorgenfalten gezeichnete Stirn. »Ihr Büro ist am anderen Ende des Flurs.«
    Rizzoli nickte. »Ich kenne den Weg.«
    Aus dem harten Licht des Speisesaals tauchten sie wieder in den düsteren Korridor ein. Maura spürte einen Luftzug, einen eiskalten Hauch – als ob gerade ein Geist an ihr vorübergehuscht wäre. Sie glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod, doch wenn sie in den Fußstapfen von kürzlich Verstorbenen wandelte, fragte sie sich bisweilen, ob die Toten nicht eine Art Spur hinterließen, so etwas wie ein schwaches Energiefeld, das jeder, der an diesem Ort vorbeikam, spüren konnte.
    Rizzoli klopfte an die Tür des Büros der Äbtissin, worauf eine zittrige Stimme »Herein!« rief.
    Als Maura den Raum betrat, stieg ihr köstlicher Kaffeeduft in die Nase. Sie erblickte mit dunklem Holz verkleidete Wände und einen Schreibtisch aus Eichenholz, über dem ein schlichtes Kruzifix hing. Hinter dem Schreibtisch saß eine Nonne mit gebeugtem Rücken, deren Brillengläser ihre Augen wie blaue Seen erscheinen ließen. Sie schien mindestens so alt wie ihre Mitschwestern drüben im Refektorium, und ihre Brille wirkte so schwer, dass man unwillkürlich befürchtete, ihr Gewicht müsse die
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