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Todesträume am Montparnasse

Titel: Todesträume am Montparnasse
Autoren: Alexandra Grote
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auch tagsüber.«
    Aus dem ersten Stock erklangen die perlenden Töne eines klassischen Klavierstücks. In Windeseile schienen die Finger über die Tasten zu gleiten. Das Spiel war so perfekt, als würde eine CD abgespielt.
    Während die Concierge anerkennend nickte und zurück in ihre Wohnung schlurfte, stiegen LaBréa und Claudine in den ersten Stock. Vor der Wohnungstür verharrten sie einen Augenblick. Unvermindert war die Musik zu hören. Nach einem kurzen Augenblick drückte LaBréa entschlossen den Klingelknopf und schlug zusätzlich mit der flachen Hand gegen die Tür.
    Das Klavierspiel verstummte. Gleich darauf waren Schritte zu hören, und die Tür wurde von innen entriegelt und geöffnet.

    Stumm und scheinbar regungslos blickte Hélène Clément ihre Besucher an. Und doch erschien das Gesicht der Ärztin LaBréa nackt und bloß. In ihren dunklen Augen lag die ganze Geschichte ihres Lebens. Leid und Verzweiflung hatten sich für alle Zeiten darin eingebrannt. Das war es, was er vor einigen Tagen, bei der ersten Begegnung mit dieser Frau, in der Santé bereits bemerkt hatte. Jetzt sah LaBréa noch etwas anderes im Blick der Ärztin. Es war Angst, gemischt mit einem Anflug von Erleichterung.
    »Sie wissen, weshalb wir kommen?«, fragte LaBréa sachte. Claudine und er betraten einen kleinen Flur. LaBréa schloss die Tür.
    Hélène Clément schien vollkommen ruhig und gefasst. »Nein. Sagen Sie es mir.«
    »Wir kommen wegen Elena Droganic. Sie kennen sie doch, nicht wahr?«
    Ein wehmütiges Lächeln spielte um Dr. Cléments Lippen. »Ja, ich kenne sie, Commissaire. Doch Elena Droganic gibt es nicht mehr. Sie ist vor vielen Jahren gestorben. In einem anderen Land, weit weg von hier.«
    »Ich weiß«, antwortete LaBréa und spürte, wie ihn die Worte der Frau berührten. Doch das durfte er sich nicht anmerken lassen. »Dann begnügen wir uns mit Dr. Hélène Clément, wenn Ihnen das lieber ist.«
    Die Ärztin blickte ihn einen Augenblick an und nickte. Ihr Gesicht im Halbdunkel des Flurs schien wie aus Alabaster gemeißelt. Was für eine schöne
Frau!, dachte LaBréa. Mit einem perfekten Körper und einem Gesicht, das ein Geheimnis barg und schon von daher auf manche Menschen besonders anziehend wirkte. LaBréa konnte verstehen, dass Franck sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte.
    Hélène Clément räusperte sich.
    »Ich würde gern die Mazurka zu Ende spielen. Diese Bitte werden Sie mir doch sicher nicht abschlagen?«
    Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern ging ins Wohnzimmer, in dessen Mitte ein schwarz glänzender Flügel stand, der den ganzen Raum beherrschte. Hélène Clément nahm auf dem Hocker Platz und begann zu spielen. Es war dieselbe Melodie wie vorhin, als sie vor der Wohnungstür standen. Eine wehmütige und gleichzeitig tröstende und auch heitere Weise, die die Ärztin mit der Leichtigkeit eines Profis dem Instrument entlockte. Auf schmerzhafte Weise betonte die Musik die Aura der Einsamkeit, die diese Frau umgab.
    Regungslos standen LaBréa und Claudine im Raum und lauschten. Hélène Clément war ganz in ihr Spiel versunken. Ihre schlanken Hände schienen über die Tasten zu schweben. Nie zuvor hatte LaBréa einen solchen Moment erlebt. Er war gekommen, eine Mörderin zu verhaften, deren Taten an Grausamkeit kaum zu überbieten waren. Und jetzt stand er hier und war fasziniert von dem Spiel der Frau, die dort am Flügel saß und so gar nicht in das Bild von einer kaltblütigen Mörderin passen wollte.

    Jetzt war das Stück zu Ende. Der letzte Ton verklang, und die Ärztin verharrte einen Moment regungslos. Dann schloss sie den Deckel des Instruments mit einer sanften Bewegung, die dennoch etwas Endgültiges hatte.
    »Die a-Moll-Mazurka Opus 68 von Chopin. Die habe ich schon als junges Mädchen gespielt. Damals, bevor das alles geschehen ist. Ich wollte Pianistin werden. Doch dann …« Sie wandte sich abrupt ab, überwältigt von Schmerz und Erinnerung. Schnell fing sie sich wieder und sagte mit gefasster Stimme: »Irgendjemand hat mal gesagt, dass es unmöglich sei, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben. Ich habe damals gedacht, dass es mir nach Foča nie mehr möglich sein würde, Klavier zu spielen. Es wurden weiter Gedichte geschrieben, und ich habe weiter Klavier gespielt. Die besten Chopin-Aufnahmen sind übrigens die mit Arthur Rubinstein. Unübertroffen!« Sie lächelte, und es schien LaBréa, als hielte sie sich an diesem Lächeln fest wie eine Ertrinkende. Dann erhob
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