Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Todesopfer

Todesopfer

Titel: Todesopfer
Autoren: Sharon Bolton
Vom Netzwerk:
erste Empfindung, als das Leinen aufklaffte, war ungeheure Erleichterung: Ich musste so etwas Ähnliches wie eine Schneiderpuppe ausgegraben haben, denn menschliche Haut hat niemals die Farbe des Fußes, den ich hier vor mir hatte. Ich stieß heftig die Luft aus und fing an zu lachen.
    Dann verstummte ich.
    Weil die Haut genau die gleiche Farbe hatte wie das Leinen, das sie bedeckt, und der Torf, in dem sie gelegen hatte. Ich streckte die Hand aus. Unbeschreiblich kalt, ohne Zweifel organisch. Als ich behutsam die Finger bewegte, konnte ich die Knochenstruktur unter der Haut ertasten, eine Schwiele am kleinen Zeh und eine raue Hautstelle unter der Ferse. Doch echt, aber vom Torf tiefbraun verfärbt.
    Der Fuß war ein wenig kleiner als meiner, und die Nägel waren säuberlich geschnitten. Der Knöchel wirkte zierlich. Ich hatte eine Frau gefunden. Meiner Schätzung nach war sie jung gewesen, vielleicht Mitte zwanzig oder Anfang dreißig.

    Ich blickte zu dem Rest des in Leinen gehüllten Leichnams empor. An der Stelle, wo, wie ich wusste, die Brust sein würde, befand sich ein großer Fleck, annähernd kreisförmig und von ungefähr fünfunddreißig Zentimetern Durchmesser, wo der Stoff anders gefärbt war, dunkler, fast schwarz. Entweder hatte irgendetwas Sonderbares im Boden sich auf diesen Teil der Leinenhülle ausgewirkt, oder der Fleck war entstanden, ehe sie begraben wurde.
    Ich wollte wirklich nicht noch mehr sehen; mir war klar, dass ich die Polizei rufen musste; sollten die sich damit befassen. Doch irgendwie konnte ich nicht anders, als das befleckte Leinen zu packen und noch einen Schnitt zu machen. Zehn Zentimeter, fünfzehn, zwanzig. Ich zog den Stoff auseinander, um zu sehen, was darunter lag.
    Nicht einmal dann schrie ich. Auf Beinen, die sich nicht wie meine anfühlten, erhob ich mich und wich zurück, bis ich an die Wand des Lochs stieß. Dann drehte ich mich um und sprang hoch, als ginge es um mein Leben. Als ich aus dem Loch krabbelte, war ich völlig verblüfft, das tote Pferd nur wenige Meter entfernt liegen zu sehen. Ich hatte Jamie vergessen. Nicht so jedoch die Elster. Sie hockte auf Jamies Kopf und stocherte aus Leibeskräften. Schuldbewusst blickte sie auf, und dann, ich schwöre es, grinste sie mich an. Ein glänzender Gewebeklumpen, von dem Blut tropfte, steckte in ihrem Schnabel: Jamies Auge.
    Jetzt schrie ich.
    Â 
    Ich saß neben Jamie und wartete. Es regnete noch immer, und ich war nass bis auf die Haut, doch inzwischen war mir das egal. In einem unserer Schuppen hatte ich eine alte grüne Zeltplane gefunden und sie über Jamie gelegt, so dass nur der Kopf frei blieb. Mein armes altes Pferd würde heute nicht begraben werden. Ich streichelte sein schönes rotbraunes Fell und flocht seine Mähne zu Turnierzöpfen, während ich stumm bei meinen beiden toten Freunden Wache hielt.
    Als ich es nicht mehr ertragen konnte, Jamie anzusehen, hob ich
den Kopf und blickte über den als Tresta Voe bekannten Meeresarm hinweg. Voes – überflutete Täler – sind in diesen Gegenden häufig; Dutzende von ihnen säumen die Küste wie ausgefranste, zarte Seide. Es ist unmöglich, die gewundenen, durchbrochenen Umrisse zu beschreiben, die sie bilden, doch von dem Hügel über unserem Haus aus konnte ich Land sehen, dann das Wasser des Voe, das eine schmale, sandgesäumte Bucht bildete, dahinter einen schmalen Hügelstreifen und dann wieder Wasser. Wäre ich groß genug und meine Sehkraft hinlänglich gut, so könnte ich sehen, wie dies immer weiterging, abwechselnd Streifen aus Land und Meer, Land und Meer, bis mein Blick den Atlantik erreichte und der Fels schließlich den Kampf aufgab.
    Ich befand mich auf den Shetlandinseln, wahrscheinlich der entlegenste und am wenigsten bekannte Teil der Britischen Inseln. Ungefähr hundertsechzig Kilometer vor der Nordostspitze Schottlands gelegen, bestehen die Shetlands aus einer Ansammlung von ungefähr hundert Inseln. Auf fünfzehn davon leben Menschen, und auf allen hausen Papageientaucher, Dreizehen- und Raubmöwen sowie andere Wildtiere.
    In sozialer, ökonomischer und historischer Hinsicht sind die Inseln ungewöhnlich; was die Geographie betrifft, grenzen sie ans Bizarre. Als wir das erste Mal zusammen hier standen, hatte Duncan die Arme um mich geschlungen und geflüstert, dass vor langer, langer Zeit eine furchtbare
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher