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Tod in Marseille

Tod in Marseille

Titel: Tod in Marseille
Autoren: Doris Gercke
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gedacht hatte, er würde etwas wiederfinden, wovon er die ganze Zeit über geglaubt hatte, es wäre wichtig. Er fand aber nicht, was er suchte, weder in sich noch beim Anblick der vertrauten Gebäude oder der vertrauten Gesichter.
    Er blieb lange in der Bar und ging erst in der Morgendämmerung zurück ins Hotel. Die angeketteten Hunde in den Bergen vor der Stadt kläfften wie damals. Vielleicht würden seine Gefühle wiederkommen, wenn es Tag wäre. Dunkel erinnerte er sich an eine bestimmte Art von rosa Licht, das vor Sonnenuntergang die Hauswände gefärbt und das er als Kind ungewöhnlich schön gefunden hatte.
    Er schlief unruhig. Es schien, als rückten die Wände und die Möbel im Zimmer näher, aber wenn er die Augen öffnete, sah er die elegante Einrichtung an ihrem Platz.
    Erst nachmittags um fünf betrat er wieder den Speisesaal. Er war allein mit der Kellnerin vom Vorabend. Während sie an seinen Tisch kam – der Speisesaal war groß, und sie verschwand fast hinter den geschnitzten, schweren Stühlen –, zog sie eineZeitung unter ihrer Schürze hervor und legte sie neben sein Gedeck. Er lächelte ihr zu.
    Ich hab die Zeitung für Sie genommen, sagte das Mädchen.
    Er dachte, dass er das Foto auf der Vorderseite nicht ansehen müsste, und bestellte Kaffee, ohne die Kellnerin aus den Augen zu lassen. Einmal, als sie sich zu ihm umwandte, lächelte er und nickte ihr zu und glaubte fast, sie wäre schon zutraulicher geworden. Aber sein Lächeln schien ihm wie eine Grimasse, und er beeilte sich, ein ernstes Gesicht zu machen. Er wollte nicht, dass sich das Mädchen vor ihm fürchtete. Erst als es sich von ihm abwandte, drehte er die Zeitung um. Dann beobachtete er die Kellnerin. Sie war vielleicht achtzehn. Ihre Taille war sehr schmal, und ihr Hintern unter dem dünnen schwarzen Kleid hatte die Form, die früher intensives Verlangen in ihm geweckt hätte. Plötzlich begriff er, er wusste nicht, warum, dass er gesucht hatte, was er nie mehr finden würde, aber er blieb sitzen, bis er annahm, der Himmel vor den Fenstern müsste rosa sein. Da stand er auf und ging den alten Weg hinunter in die Stadt.
    Die schmale Straße war leer und wirklich in das rosa Licht getaucht, an das er sich erinnerte. Die Polizisten, die ihm entgegenkamen, bildeten eine Reihe. Sie hielten Waffen in den Händen. Er musste nur noch die Bewegung machen, die sie dazu veranlassen würde, zu schießen. Er ging langsam auf sie zu, berührte seine Hüfte, und sie schossen. Während er auf die Straße fiel, wurde es um ihn dunkel, und er dachte, es wäre, als ob sie das rosa Licht erschossen hätten. Aber gleichzeitig wusste er, dass es schon sehr viel früher erloschen war.
    Im Pass des Mannes, den die Polizisten erschossen hatten, stand der Name René Picard. Die Kellnerin, die ihn im Parador bedient hatte, hieß Maria-Carmen. Sie war fast achtzehn und arbeitete seit fünf Wochen dort oben im Hotel. Das Haus ihrer Eltern stand unten, in der Calle de Ruiz Padron, und war ganzsicher das schäbigste Haus in San Sebastián; ein altes, niedriges kanarisches Haus, das andere Leute renoviert und gepflegt hätten. Es gab nicht mehr viele von diesen Häusern in der Stadt. Ihre Eltern kümmerten sich nicht darum. Die waren damit beschäftigt, sich zu streiten und zu saufen und in die Kirche zu rennen; jedenfalls die Mutter. Die Kirche lag nur ein paar Meter entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite; nicht die schöne alte Kirche, die schon ein paar hundert Jahre alt war, sondern ein Betsaal. Jeden Sonntag konnte man in der ganzen Straße die Stimme der Predigerin hören.
    Die Mutter war sehr stolz, als ihre Tochter die Anstellung als Kellnerin bekam, obwohl sie vorher nichts von der Bewerbung wusste. Ganz sicher hatte sie nichts Besseres zu tun gehabt, als ihren Betschwestern die Nachricht am nächsten Sonntag brühwarm zu überbringen. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass einige darunter waren, die missbilligend das Gesicht verzogen. Ein Hotel, das war doch fast so etwas wie ein Freudenhaus.
    Gebt ja acht auf eure Kleine, werden sie gesagt haben, und ihre Mutter, scheinheilig, wie sie war, hatte versichert, sie würde ihr Baby nicht aus den Augen lassen. Na klar, besonders der Vater, dachte Maria-Carmen. Und so war es ja auch gekommen. Gleich am dritten Abend hatte sie ihn erkannt, seine gedrungene Gestalt am Rand der Auffahrt zum Parador. Zwischen den Hibiskusbüschen hatte er gestanden und gelauert, dass sie vor die Tür käme und
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