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Tod in Marseille

Tod in Marseille

Titel: Tod in Marseille
Autoren: Doris Gercke
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Kellnerinnen ein. In der Tür blieb die kleine Gruppe aus zwei Polizisten und einem jungen Mädchen einen Augenblick stehen, um das uralte Ehepaar durchzulassen, das zum Frühstück erschien.
    Maria-Carmen ging zwischen den Polizisten an den weißen Callas vorbei in das Zimmer Nummer vierzehn. Die Männer ließen die Tür offen. Sie waren freundlich, sodass das Mädchen annahm, das Zimmer diene ihnen, weil es nicht mehr bewohnt war, als Raum, in dem sie ungestört ihre Fragen stellen könnten. Sie vermied es, so gut es ihr möglich war, auf die Stelle zu sehen, an der die Fliese gelockert war. Die Polizisten hatten das leere Versteck wohl noch nicht gefunden. Weshalb hätten sie es wieder zudecken und so tun sollen, als wäre dort am Boden alles in Ordnung? Außer sie hätten sie im Verdacht, etwas herausgenommen und behalten zu haben.
    Der Gedanke durchfuhr sie wie ein elektrischer Schlag. Sie hatte Mühe, ihre Fassung zu bewahren. Als der erste Schock vorüber war, spürte sie das Päckchen auf ihrem Leib, als wäre es heiß geworden. Der Polizist, der sie aufgefordert hatte, mitzukommen, sah sie aufmerksam an. Maria-Carmen begann zu weinen. Sie weinte die Art von Tränen, die ihren Vater fast bis zu ihrem Auszug von zu Hause davon abgehalten hatten, sich an ihr zu vergehen. Beim Vater hatten sie am Ende ihre Wirkung verloren. Die beiden Polizisten waren ihnen hilflos ausgesetzt.
    Nun, nun, wir tun dir doch nichts. Hol ihr mal was zu trinken, aber lass die Tür offen. Mein Gott, ist das hier im Zimmer eine Hitze. Lass bloß die Tür offen. Ist ja gut. Setz dich erst mal hin, ist ja gut.
    Maria-Carmen setzte sich nicht, aber als der zweite Polizist mit einem Glas Wasser zurückkam, lächelte sie ihn dankbar an, seufzte leise und schluchzend und war bereit, die Fragen der Polizisten zu beantworten.
    Die Fragen stellte der Ältere, ein kleiner, untersetzter, dunkelhaariger Mann, dessen Bauch vorstand und dessen Finger an der linken Hand so aussahen, als hätte er sie irgendwann zu lange über offenes Feuer gehalten. Oder als hätte irgendwann irgendjemand seine Hand zu lange über einem offenen Feuer festgehalten. Der Gedanke daran, dass jemand vielleicht stärker gewesen war als der bullige Mann vor ihr, gab Maria-Carmen endgültig ihre Sicherheit zurück. Auch das Notizbuch, das der Jüngere aus der Tasche zog und in das er ihre Antworten eintrug, schüchterte sie nicht mehr ein.
    Ja, der Gast war abends im Speisesaal gewesen. Er war zwei Mal dort. Das zweite Mal am Nachmittag.
    Ja, er hat mir ein Trinkgeld gegeben, aber nur beim ersten Mal.
    Ja, es war ein großes Trinkgeld, wenn Sie es sehen möchten …
    Nein, ich hab mich nicht gewundert, dass es lauter Zwei-Euro-Stücke waren. Viele Gäste haben Münzen in den Taschen, die sie uns geben, wenn sie mit unserer Arbeit zufrieden sind. Nein, für sein Zimmer bin ich nicht zuständig.
    Welchen Eindruck er beim Essen gemacht hat?
    Nun denkt sie nach, weil sie die Frage selbst interessiert und weil sie weiß, dass eine aufrichtige Antwort ihr nicht schaden kann.
    Ich glaube, er war einsam, sagt sie langsam. Ich glaube, er sah so aus, als ob er auf irgendetwas gewartet hat …
    Irgendetwas oder irgendjemand?, fragt der Polizist schnell.
    Das ist doch gleich, antwortet Maria-Carmen, ohne nachzudenken, aber langsam, so als hörte sie ihren eigenen Worten zu und wäre darüber verwundert.
    Nein, ich habe nicht gewusst, wer der Mann ist. Die Gäste stellen sich uns nicht vor. Ich habe an dem Abend sehr viel zu tun gehabt. Er war der letzte Gast. Er kam sehr spät, und ich war furchtbar müde. Am nächsten Tag war er ja nachmittags da, aber irgendwie war er mir unheimlicher als am Abend.
    Ich weiß nicht, weshalb. Vielleicht, weil er so stumm war. Wenn ein Gast am späten Abend müde ist und nichts sagt und nicht gestört werden will, dann verstehe ich das gut. Aber wenn einer am Nachmittag …
    Sie spricht nicht weiter, weil ihr die Worte, die sie sagen wollte, plötzlich zu intim vorkommen. Wie auf einer Bühne, von einem dünnen Scheinwerferstrahl erhellt, sieht sie in Gedanken sich und den Mann, der im Speisesaal sitzt und noch nicht weiß, dass sie ihn dafür ausgewählt hat, sie mitzunehmen. Da sitzt er, stumm und ohne sich zu bewegen, und sie wird die Stille, die ihn umgibt, nicht durchbrechen, denn man sieht doch, dass er allein sein will, aber sie ist sicher, dass sie ihn fragen wird, wenn die Gelegenheit kommt. Die kleine Bewegung, mit der er in langen
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