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Tod in Marseille

Tod in Marseille

Titel: Tod in Marseille
Autoren: Doris Gercke
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Gegenwart sicher nicht gewagt hätte.
    Als Maria-Carmen ein paar Wochen später am Sonntagabend in die Bar kommt, hat man Nini schon nach Hause gebracht. Obwohl sie nun gezwungen ist, Nini in ihrer Wohnung aufzusuchen, ist sie darüber froh. Bei den Männern, die sich vor dem Fernsehgerät versammelt haben und die Zusammenfassung der Fußballspiele vom Wochenende kommentieren, steht auch der ältere der beiden Polizisten, der sie vor ein paar Tagen befragt hat. Er sieht kurz zu ihr herüber, beachtet sie dann aber nicht weiter. Maria-Carmen trinkt einen Kaffee und verlässt die Bar. Obwohl sie sicher ist, dass man sie in der Dunkelheit aus dem Innern der Bar nicht lange beobachten kann, wählt sie nicht den direkten Weg. Sie geht die Calle del Medio hinauf, als ginge sie zurück in den Parador, und biegt erst ab, als sie sicher ist, dass sie nicht verfolgt wird.
    Sie hatte lange darüber nachgedacht, was sie tun sollte, bevor sie sich dazu entschlossen hatte, Nini aufzusuchen. Manchmal, besonders wenn die Gäste mit dem Trinkgeld großzügig gewesen waren, hatte sie gemeint, sie könnte bleiben. Immer hatte sie der Mutter Geld gegeben, das die angeblich für Lebensmittel oder für Kleidung brauchte. Sie war sicher, dass das meiste davon in den Opferstöcken der Kirche landete, aber eine Zeitlang hatte sie geglaubt, sie könnte es im Parador aushalten, weil ihr die Arbeit dort gefiel. Dann war ihr Vater wieder aufgetaucht,der einige Wochen beim Straßenbau auf der Insel beschäftigt gewesen war, bis man ihn wegen seiner Sauferei wieder entlassen hatte. Sie wusste, es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Manager des Hotels sie auf den Mann ansprechen würde, der vor der Einfahrt stand und nicht wegging, bevor sie ihm ein paar Geldstücke in die Hand gedrückt hatte. Auch fragte er seit ein paar Tagen in hinterhältigen Andeutungen nach der Lage ihres Zimmers. So war sie also zu dem Schluss gekommen, dass sie von der Insel verschwinden musste, und der Fremde hatte in ihrer Phantasie wieder an Bedeutung gewonnen. Ihr war klargeworden, dass sie zu wenig über ihn wusste. Da könnten die Zeitungsausschnitte, die Nini übersetzen sollte, von Nutzen sein.
    Die kleine Gasse, in der Ninis Wohnung liegt, ist dunkel. Maria-Carmen verschwindet schnell im Hauseingang. Einen Augenblick lauscht sie im Flur, bevor sie die Treppe hinaufhuscht und die Wohnung betritt.
    Jemand hat die alte Frau auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt und eine Decke über sie gebreitet. Neben dem Sofa brennt eine Stehlampe. Lautes Schnarchen ist zu hören, und ein leichter Geruch von Gin hängt in der Luft. Neben einem der Fenster, die zur Straße gehen, hängt ein Käfig, der mit einem Tuch zugedeckt ist. Maria-Carmen wirft einen angewiderten Blick auf die alte Frau, bevor sie in die Küche geht. Sie hat Erfahrung mit Betrunkenen. Ein starker Kaffee kann manchmal Wunder wirken.
    Die Küche ist sauber und aufgeräumt. Während sie in den Regalen die Utensilien zum Kaffeekochen zusammensucht, verschwindet der Ekel vor der Betrunkenen. Die Küche ihrer Eltern oder das, was einmal deren Küche gewesen war, sah anders aus. Offenbar gab es auch saubere Alkoholiker. Als der Kaffee fertig ist, stark und schwarz und süß, trägt sie einen Becher davon ins Zimmer. Die alte Frau hat sich bewegt. Sie liegt nun auf dem Rücken und sieht an die Decke. Ihre Lippen bewegen sich, und als Maria-Carmen näher kommt, hört sie einzelne Laute,die, wenn sie schneller aufeinandergefolgt wären, wahrscheinlich eine Melodie ergeben hätten.
    Kaffee, Nini, sagt das Mädchen.
    Die Stimme vom Sofa wird lauter. Es ist nun tatsächlich eine Art Melodie zu erkennen, die Maria-Carmen bekannt vorkommt, aber die Worte dazu versteht sie nicht. Sie stellt den Becher ab, nimmt ein Kissen vom Fußende des Sofas und stopft es Nini unter den Kopf, sodass die nun halb aufgerichtet sitzt. Der Gesang bricht ab.
    Woher weißt du, dass ich Kaffee will, sagt Nini. Ihre Stimme ist dunkel und kräftig, sie scheint nicht zu der kleinen Person zu passen. Wer trinkt denn nachts Kaffee. Im Kühlschrank steht der Gin. Geh und hol ihn.
    Gleich, Nini, erst den Kaffee.
    Ach, ja?
    Du musst mir helfen. Hier – sie zieht aus der Rocktasche ein paar Zeitungsausschnitte hervor –, ich will wissen, was da steht.
    Zum ersten Mal wendet Nini den Kopf und sieht das Mädchen an. Ihre Augen sind wach.
    Was ist das? Lesen soll ich? Was hast du da? Kannst du nicht selbst lesen?
    Nicht Französisch, Nini. Hier, trink
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